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Silbertod

Silbertod

Titel: Silbertod
Autoren: F E Higgins
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    S
ybil lag auf ein dickes cremefarbenes Polster gebettet auf dem Tisch. Unter dem Polster hing ein schwarzes Samttuch herab, das in weichen Falten bis auf den Boden fiel. Sie trug ein langes weißes Kleid, an den Füßen zusammengeknotet und am Hals eng anliegend. Eine scharlachrote gestickte Schärpe, die locker um ihre Taille lag, war mit einer zierlichen glitzernden Brosche in Form eines Schmetterlings an ihrer linken Schulter befestigt. Die Hände waren über der Brust gefaltet. Sie trug drei Ringe an jeder Hand. Der Kopf ruhte auf einem mit Quasten geschmückten Samtkissen und ihr langes dunkles Haar umrahmte das blasse Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, ihre langen Wimpern lagen auf den Wangen, ihre Lippen waren rot. Nichts zeugte von den parallel verlaufenden Quetschungen an ihrem Körper, den Spuren der Wagenräder, die Sybils kurzem Leben auf so grausame Weise ein Ende gesetzt hatten. Mr Gaufridus war immer besonders stolz auf den friedvollen Ausdruck, den er auf den Gesichtern seiner Kunden zuwege brachte. Nichts freute ihn mehr als die Worte »Sie sieht aus, als ob sie schläft« (obwohler sich natürlich durch gründliche Kontrollen vergewissert hatte, dass dies nicht der Fall war).
    Er wurde nicht oft enttäuscht. Erst vor zwei Tagen, als die Familie des armen Mädchens die Tote gesehen hatte, waren ebendiese Worte wieder gefallen. Sybils Mutter war noch einmal in Tränen ausgebrochen und der Vater war die ganze Zeit in dem kleinen Raum hin und her gelaufen und hatte die Kutsche verflucht, von der Sybil überrollt worden war. Noch lauter verwünschte er einen gewissen jungen Mann, einen Mr Henry Belding, dem es mit großer List gelungen sei, seine Tochter zu umgarnen und sie hinüber auf seine Seite, die Südseite, zu locken. Mr Gaufridus hatte die Szene mit unveränderter Miene beobachtet und, wenn es ihm angebracht schien, behutsam tröstende Worte gemurmelt.
    »Wie konnte das passieren?«, klagte die Mutter wieder und wieder. »Mein Liebling Sybil. So behütet aufgewachsen und doch einem so unpassenden Burschen verfallen. Sein Vater war Straßenkehrer, seine Mutter hat Gin verkauft. Nein, diese Schande!«
    »In der Tat«, murmelte Mr Gaufridus. »Ich kann mir den Kummer kaum vorstellen, den Euch das bereitet haben muss. Vielleicht könnt Ihr wenigstens Trost schöpfen aus der Tatsache, dass sie nun an einem besseren Ort ist als im Haus eines Straßenfegers.«
    Sybils Mutter sah ihn aus dem Augenwinkel an, doch Mr Gaufridus’ Miene verriet nichts. Gesichtslähmung konnte in seinem Gewerbe vorteilhaft sein.
    Pin stand vor dem Tisch und betrachtete das friedliche Gesicht des Mädchens. Die Luft war kühl und er nahm den vertrauten Geruch des Todes wahr. Es war kein unangenehmer Geruch; im Grunde genommen kamen die Gerüche, die Pin mit dem Tod in Verbindung brachte, gar nicht von menschlichen Körpern, sondern von der Kräutersalbe, die der Bestatter zum Einbalsamieren der Haut verwendete. Pin war kein überempfindlicher Junge. In einer Stadt wie Urbs Umida war das Leben ein Wagnis und der Tod an der Tagesordnung. Es ergab sich dabei eine interessante Gleichung: Je älter man wurde, desto größer wurde auch die Wahrscheinlichkeit, noch länger zu leben. Kam man über zwei Jahre hinaus, hatte man eine gute Chance, zehn Jahre zu werden. Schaffte man es bis fünfzehn, bestand eine handfeste Möglichkeit, dass man die Zwanziger erreichte. Und war man dreißig geworden, war einem das Alter so gut wie sicher (Alter fing bei vierzig an und endete mit fünfundvierzig).
    Probehalber streckte Pin den Arm aus und berührte die Hand des Mädchens; sie war so kalt, wie er sich die tiefste Stelle des Foedus vorstellte. Das Mädchen war jung, nicht älter als siebzehn, und das stimmte ihn traurig. Er musste an die Zeilen denken, die er einmal auf einem Grabstein gesehen hatte:
    Wer in der Blüte seiner Jugend stirbt
    Nimmt die Schönheit mit bis ans Himmelstor
    Pin ließ sich auf seiner Bank nieder. Wie meistens in diesen langen Nächten, wenn er allein in dem dunklen, kalten Raumsaß, kreisten seine Gedanken wieder um seinen Vater. Die ganze Sache mit Onkel Fabian war ihm ein Rätsel. Er wusste, was alle dachten, aber das konnte er von seinem Vater nicht glauben. Und er würde es auch nicht glauben, es sei denn, er hörte es von dessen eigenen Lippen. Sein Vater ein Mörder? Unmöglich. Zugegeben, es sah schlecht aus für Oscar Carpue. Er war verschwunden und hatte eine Leiche zurückgelassen, das ließ
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