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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel
Autoren: Federica de Cesco
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obendrein noch so feierlich klang.
    »Wieso? Ich weiß nicht. Ja… ich glaube, früher einmal. Vor der Revolution.«
    »Sie scheinen etwas dagegen zu haben.«
    »Nein, warum auch? Aber ich habe noch nie weiter darüber nachgedacht.«
    Als Antwort kam ein gewichtiges Räuspern, und ich hatte gelacht, wobei der Schmerz in meiner Hüfte mich gleichzeitig aufstöhnen ließ. Bruno hatte mich nämlich vor wenigen Minuten – im wahrsten Sinne des Wortes – überfahren.
    Ich war also eine Frau von unbestimmtem Adel. Angesichts dieser Tatsache spielte es für Bruno überhaupt keine Rolle, daß wir in einem verkommenen Haus mit zerbrochenen Dachziegeln und ohne Heizung – nur mit einem Kamin und einem Gasboiler im Badezimmer – lebten; daß wir oft nicht wußten, wie wir die nächste Gas-, Elektrizitäts- und Telefonrechnung bezahlen sollten. Auch nicht, daß wir Schulden beim portugiesischen Lebensmittelhändler hatten und an manchen Monatsenden mit Brot, Käse, Oliven und verdünntem Milchkaffee so lange auskommen mußten, bis das Gehalt meines Vaters auf sein ohnehin überzogenes Konto überwiesen wurde. Bruno beachtete vielmehr, daß in meiner Familie Ärzte, Juristen und Ingenieure vorkamen. Und daß mein Vater, den Bruno auf Anhieb als 12
    »großartigen Menschen« bezeichnete, Professor an der Hochschule war.
    Ich tat nichts, dachte nichts; die Bilder formten sich ganz von selbst in meinem Bewußtsein. Wie in einem fernen, sehr fernen Spiegel sah ich unser Wohnzimmer mit seinem Marmorfußboden, dem rissigen Gips an der Decke, den Blumengirlanden auf der Tapete. Der Glasbehang des Kronleuchters war verstaubt, nur noch ein oder zwei Birnen funktionierten. Das Tageslicht drang kaum durch die verdunkelten Läden. Ich sah Bruno in steifer Haltung auf dem mit Brokatstoff bezogenen Sofa sitzen, während mein Vater in seinem Polstersessel thronte. Beide hielten ein Glas Anisette in der Hand. Über den Zeitraum von dreizehn Jahren hinweg hörte ich die warme, angenehme Stimme meines Vaters. Er sprach über die Geographie und die Geschichte der Provence, über Brauchtum und Literatur. Er hatte ein Buch über den Kreuzzug gegen die Katharer geschrieben und schenkte Bruno ein gewidmetes Exemplar. Inzwischen hantierte meine Mutter in der Küche.
    Bruno sollte zum Essen bleiben. Ich weiß noch, wie ich ein Schälchen mit Salzmandeln auf die Marmorplatte stellte. Auf meinem Knie klebte ein Pflaster, und auf der Hüfte hatte sich ein dicker blauer Fleck gebildet, nichts Schlimmes. Ich schwieg. Sogar Bruno war stumm, um nicht zu sagen kleinlaut, und legte die Stirn in ehrfurchtsvolle Falten. Wenn mein Vater redete, wurde zugehört.
    »Der junge Mann soll zum Essen bleiben«, hatte er meiner Mutter zugeraunt.
    »Ich weiß nicht, ob wir noch genug Reis haben. Und die Tomaten sind auch nicht mehr frisch«, hatte meine Mutter erregt zurückgeflüstert.
    »Geh zu Ferreira und laß es anschreiben!«
    Meine Mutter hatte das bleiche Gesicht geneigt, mit der Gebärde einer Schlafwandlerin ihre dunkle Hornbrille über die Augen gezogen und ihre Einkaufstasche genommen.
    Bruno erfuhr beim Essen, daß wir früher »de Saint-Privaz« hießen und auf überaus verworrenen, offenbar ehebrecherischen Wegen mit den Grafen von Toulouse verwandt gewesen waren. Während der Revolution hatte die Familie den Adelstitel abgelegt. Im neunzehnten Jahrhundert hatten die Saint-Privaz’ ihr Vermögen aus der Seiden- und Baumwollspinnerei bezogen. Seit dem Ersten Weltkrieg war das Unternehmen verkommen und die Familie völlig verarmt. Unser Haus, ein früherer Landsitz, war nie renoviert worden. Im Rausch der Städteplanung hatte man die Autobahn fast mitten durch den großen Garten gezogen; die Enteignung hatte der Familie immerhin etwas Geld eingebracht. Nun fuhren die Lastwagen an meinem Schlafzimmer vorbei. Nachts im Bett spürte ich, wie die Wände bebten.
    »Wir wissen natürlich nicht«, sagte mein Vater, melancholisch lächelnd, »wie lange wir es uns noch leisten können, hier wohnen zu bleiben. Wir leben von geborgter Zeit, aber schließlich ist jede Zeit geborgt. Und in allem, was auseinanderfällt, sollten wir die Zeichen einer Beständigkeit erblicken, nicht wahr, Monsieur Chardonne?«
    13
    Bruno räusperte sich und meinte, er sähe das auch so. Mein Vater schlug ihn mit seinen rhetorischen Taschenspielereien in seinen Bann, ebenso mühelos, wie er seine Studenten im Hörsaal fesselte und meiner Mutter bei jeder Gelegenheit Hörner
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