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Silberflügel: Roman (German Edition)

Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition)
Autoren: Kenneth Oppel
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Schatten überhaupt nicht da wäre. Daran war er gewöhnt, dass man ihn ignorierte. Er fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte etwas zu sagen. Es ärgerte ihn, wenn Chinook sich wie der King aufspielte und schwadronierte.
    „Wenn wir also an diesen Ort kommen“, redete Chinook weiter, „schlafen wir in diesen ganz tiefen Höhlen mit diesen riesigen Eiszapfen, die von der Decke hängen.“
    „Stalaktiten“, sagte Schatten. Er hatte seine Mutter danach gefragt. „Es sind keine Eiszapfen, sie bestehen aus Mineralien, die von der Decke herabtropfen. Es ist kein gefrorenes Wasser.“
    Chinook beachtete ihn nicht, sondern redete weiter von den Eiszapfen in den Höhlen. Schatten zog eine Grimasse. Der Kerl war noch nicht einmal daran interessiert, die Dinge richtig zu stellen. Er kannte keinerlei Neugier. Dass Chinook überhaupt schon einmal Eis gesehen hatte, bezweifelte Schatten. Er selber hatte letzte Nacht zum ersten Mal welches erblickt. Kurz vor der Morgendämmerung war ihm in dem Bach, wo sie tranken, auf dem Wasser eine vom Ufer ausgehende durchsichtige Haut aufgefallen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, diese Haut zu testen, war niedrig darüber hingeflogen und hatte mit seinen hinteren Krallen draufgeschlagen. Beim zweiten Versuch hatte er gefühlt, wie das Eis mit einem angenehmen Knistern nachgab. Auch die anderen Anzeichen des nahenden Winters hatte er während der vergangenen Wochen bemerkt: das wechselvolle Leuchten der fallenden Blätter, die beißende Frische der Luft. Aber das Eis hatte ihm klargemacht, dass der Winter wirklich nahe war, und das flößte ihm Angst ein.
    Er dachte ungern an die bevorstehende Wanderung. Hibernaculum war Millionen von Flügelschlägen entfernt, und er fürchtete, er wäre vielleicht nicht stark genug, um das zu schaffen. Auch seine Mutter musste sich Sorgen machen, sonst würde sie ihm nicht andauernd vorhalten, er müsse mehr essen. Und selbst wenn er dorthin gelangte – die Vorstellung, dass er dann vier Monate lang schlafen sollte, füllte ihn mit Entsetzen. Sie würden den ganzen Winter lang nichts essen, sondern nur schlafen, und ihre Körper würden vor Frost glitzern. Und was wäre, wenn er nicht einschlafen konnte? Was wäre, wenn er in der Höhle bloß da hing und alle anderen ringsum fest schliefen? Es war sowieso eine blöde Idee, so lange zu pennen. So eine Verschwendung! Vielleicht wären andere Fledermäuse dazu in der Lage, aber er wusste, dass er das nicht könnte. Es war einfach unmöglich. Manchmal war es schon schwer genug für ihn, nur einen ganzen Tag lang durchzuschlafen. Es gab doch so viel, was er tun musste: fliegen üben, besser zu landen lernen, besser zu jagen, einen Bärenspinner zu fangen. Er musste größer und stärker werden, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er das alles tun sollte, während er den Winter verschlief.
    „Ich kann’s kaum erwarten, meinen Vater zu treffen“, sagte Chinook gerade.
    „Ich auch nicht“, stimmte Rasha zu.
    Und sofort sprachen alle über ihre Väter, wiederholten Geschichten, die sie von ihren Müttern und Schwestern über sie gehört hatten. Im Augenblick waren die Silberflügel in zwei Gruppen geteilt. Der Baumhort war die Kinderkolonie, wo die Weibchen ihre Jungen aufzogen. Weiter südöstlich verbrachten die Männchen den Sommer im Felsenlager. Wenn einmal die Wanderung einsetzte, würden sich die beiden Gruppen treffen und gemeinsam die lange Reise in den Süden nach Hibernaculum machen.
    Schweigend hörte Schatten zu. Er fühlte, wie sich sein Gesichtsausdruck verhärtete, und wünschte, dass sie alle den Mund hielten.
    „Mein Vater ist riesig“, übertönte Chinook die anderen. Er wartete nie, bis man ausgeredet hatte. Er platzte einfach hinein und jedes Mal verstummten alle anderen, um ihm zuzuhören. Schatten konnte nicht verstehen, warum sie das taten. Das Einzige, worüber Chinook jemals sprach, war, wie viel er gegessen hatte oder welcher seiner Muskeln nach seiner letzten Heldentat am meisten schmerzte.
    „Die Flügel meines Vaters reichen von hier bis zu dem Baum da drüben, und er kann in einer Nacht zehntausend Käfer vertilgen und er ist schneller als sonst jemand in der Kolonie. Und einmal hat er mit einer Eule gekämpft und sie getötet.“
    „Keine Fledermaus kann eine Eule töten“, schnauzte Schatten. Es war das Erste, was er nach längerer Zeit sagte, und die Wut in seiner Stimme überraschte ihn.
    „Mein Vater schon.“
    „Sie sind zu
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