Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Silberflügel: Roman (German Edition)

Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition)
Autoren: Kenneth Oppel
Vom Netzwerk:
hockte. Ohne ein Geräusch zu machen, presste sich Schatten fest an die Rinde des Baumes, aber er wusste, dass sie ihn entdeckt hatte. Eulen konnten so geräuschlos fliegen. Sie konnten sich einem ganz unbemerkt nähern. Die Eulenaugen blieben auf ihn geheftet, dann drehte sich der massige Kopf mit den unheimlich hornförmigen Ohren zum hellen Horizont, um Ausschau nach der Sonne zu halten. Schatten tastete die Eule mit seinem Klang-Sehen ab und machte sich ein gründliches Bild: das dichte Gefieder mit der wilden Kraft darunter, der bösartig gekrümmte Schnabel, der Fleisch in Sekundenschnelle zerreißen konnte. Und er wusste, dass sie nicht einmal ihre Augen brauchte, um ihn zu sehen. Wie er selbst verfügten auch alle Eulen über Klang-Sehen.
    Er starrte den Vogel an und hasste ihn. Keine Fledermaus könnte eine Eule töten. Sie waren Riesen, fünfmal so groß, vielleicht noch größer. Er hätte eigentlich mehr Angst haben müssen. Er war kleiner, aber er konnte deshalb auch an Orte gelangen, wo die Eule nicht hinkam, durch enge Zwischenräume im Astwerk. Er konnte sich in den Spalt eines Stammes hineinzwängen. Er konnte sich vor der Rinde fast unsichtbar machen.
    Ein plötzlicher Luftstoß hinter ihm, und da flatterte seine Mutter.
    „Flieg los!“, zischte sie. „Sofort!“
    Ihre Stimme klang so dringlich und so wütend, dass er ihr augenblicklich folgte. Sie stürzten sich den Hügel hinab und folgten den Baumwipfeln. Er blickte über den Flügel zurück und sah, wie die Eule ihnen in einiger Entfernung mit gemächlichen Schlägen ihrer gewaltigen Flügel folgte. Die Sonne war noch nicht über den Horizont gestiegen.
    Sie flogen über den Bach, und die Eule war immer noch da. Schatten fühlte eine plötzliche Wärme auf den Flügeln und schaute hin. Sie glänzten hell. Die Sonne!
    „Zwischen die Bäume!“, rief Ariel ihm über ihren Flügel zu. „Schau nicht nach hinten!“
    Aber er schaute.
    Ein kleines Scheibchen Sonne war über den Horizont gestiegen und überschüttete das Tal mit blendendem Licht. Es war so hell, so intensiv, dass es ihm den Atem verschlug und er die Augen fest schließen musste.
    Mit dem Klang-Sehen klammerte er sich an seine Mutter und folgte ihr, als sie unter die Wipfel der Bäume hinabtauchte. Der widerwärtige Geruch der Eule schlug über ihm zusammen, als ihre Krallen an seinem Schwanz vorbeischossen und ihm beinahe die Flügel durchbohrten.
    Er war jetzt unten zwischen den Bäumen, und überall um ihn herum erhoben sich die Vögel und veranstalteten ein fürchterliches Geschrei. Wie verrückt wedelten die beiden Fledermäuse durch das Laub. Er strengte sich an, seiner Mutter zu folgen. Endlich stürzten sie auf die Lichtung hinaus. Mit ihnen die Eule, die ihnen oberhalb der Bäume gefolgt war und nun wie ein Hagelsturm auf sie herabfiel. Schatten und seine Mutter wirbelten in verschiedene Richtungen, um den Krallen der Eule auszuweichen, kamen dann wieder zusammen, flitzten auf die mächtigen knorrigen Äste des Baumhorts zu, hinein durch das Astloch und in die sichere Dunkelheit im Inneren.

– 2 –
Der Baumhort
    Der Baumhort war eine gewaltige, uralte Eiche mit tief gefurchter Borke und dicken, knorrigen Wurzeln, die sich aus der Erde herauskrümmten. Vor hunderten von Jahren hatte ein Blitz sie getroffen, der Baum war abgestorben und die Außenseite versteinert. Die Silberflügel hatten den großen Stamm und viele Äste ausgehöhlt und seitdem als Kinderkolonie benutzt. Jedes Frühjahr kamen die Weibchen hierher zurück, um ihre Jungen zur Welt zu bringen und aufzuziehen. Es gab nur eine Hand voll Öffnungen, gut verborgene Astlöcher, durch die die Fledermäuse in der Morgen- und Abenddämmerung herein- und hinausflogen. Vögel oder andere Tiere konnten da nicht eindringen. Die Fledermäuse hatten ihr Lager an den bemoosten Innenwänden, in Spalten, auf Simsen und in Höhlungen und in den zahlreichen Ästen, die vom Hauptstamm abzweigten.
    Als Schatten mit seiner Mutter durch das Astloch hereingestürzt kam, blickten die Fledermäuse, die in der Nähe des Eingangs hingen, ängstlich zu ihnen hin. Draußen schrie noch einmal wütend die Eule. Ein- oder zweimal schlug sie mit ihren Krallen gegen den Baum, bevor sie unheilvoll kreischend wegflog. Als Schatten mit rasendem Herzschlag neben seiner Mutter landete, hörte er die sich überstürzenden Fragen.
    „Was ist passiert?“, und „Warum seid ihr so lange draußen geblieben?“, und „Habt ihr den Chorgesang zur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher