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Silber

Titel: Silber
Autoren: Steven Savile
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seiner Bartstoppeln abhob. In diesem kurzen Moment hätten sie fast ein Liebespaar sein können. Die zusammengerollten Geldscheine in ihrem Ausschnitt machten diese Illusion allerdings sofort wieder zunichte.
    Noah ließ sie auf dem Bett zurück. Als er die Tür hinter sich schloss, fiel ihm ihr Name wieder ein: Margot.
    Er ging hinaus auf die Straße. Der Polarstern leuchtete hell am Nachthimmel, die Straßenlaternen warfen natriumgelbes Licht auf den Gehsteig. Eine fette Ratte huschte unter einem Berg aus Plastikmüllsäcken hervor, die sich im Rinnstein türmten. Egal, wo man sich in London aufhielt, man war nie weiter als zehn Fuß von einer Ratte entfernt – so sagte man es sich zumindest.
    Noahs 1966er Austin Healey in britischem Renngrün war an der Bordsteinkante geparkt. Umgeben von der Eintönigkeit der Volvos, Fords, BMWs und Citroëns, die beide Seiten der Straße säumten, wirkte er wie ein Relikt aus vergangenen und vornehmeren Tagen. Die Seitenwände des Austins waren beige und mit schwarzen und goldenen Leisten abgesetzt, das schwarze Lederverdeck war aufgeschlagen. Noah hatte den Wagen auf dem Schrottplatz von Clapham Common entdeckt und sich sofort in ihn verliebt, obwohl er damals noch ein auf Ziegelsteinen aufgebocktes Wrack gewesen war. Sie waren füreinander bestimmt, wie die sprichwörtliche Kugel mit seinem Namen darauf.
    In den Zulassungspapieren stand als Erstverkaufsdatum der 27. März 1966. Ihm gefiel der Gedanke, dass das Auto im selben Jahr „Geburtstag“ hatte, in dem der Hund Pickles den alten Jules-Rimet-Pokal unter einer Hecke in Süd-London gefunden hatte. Noah hatte Hunderte von Stunden und mehrere Tausend Pfund in die Restaurierung des Wagens investiert. Tatsächlich war dieses Auto die einzige Konstante in seinem Leben – es war das einzige, was er wirklich liebte. Ein Psychiater würde daraus vielleicht schließen, dass er eine lieblose Kindheit mit zu wenig Körperkontakt durchlebt hatte, oder dass er vielleicht jedes Mal beim Einsteigen ödipale Gedanken an seine Mutter hegte. Doch manchmal war ein Auto auch einfach nur ein Auto, und bei dieser Männerliebe handelte es sich lediglich um die Liebe eines Mannes zu seinen Speichenfelgen und dem Armaturenbrett aus Walnussholz.
    Er ließ den Motor aufheulen und lenkte den Wagen auf die Straße.
    Bei Nacht war London ein geheimnisvolles Ungeheuer. Es war erfüllt vom lockenden Duft der Gefahr, und an jeder Ecke wurde ein Ehebruch oder eine sinnlose Gewalttat begangen. Was New York für Frank Sinatra war, war London für Noah Larkin. An einer Kreuzung sah er einen dreibeinigen Hund, der versuchte, an eine Wand zu pinkeln ohne dabei umzufallen. Vor ihm liefen zwei Mädchen mit eingehängten Armen auf dem weißen Mittelstreifen der Fahrbahn, er drückte kurz auf die Hupe und fuhr dann um sie herum. Innerhalb von wenigen Sekunden beschleunigte er erst auf Hundert, nur um an der nächsten Ampel wieder völlig zum Stillstand zu kommen. Noah liebte die trügerische Freiheit, die ihm der Wind in den Haaren verlieh, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war.
    Dieser Teil von London hatte drei Ebenen: den Untergrund; dann die Straßen, wo die Fastfood-Ketten, Elektronikläden, Kleidungs-Discounter und Blumenhändler sofortige Zufriedenheit garantierten; und schließlich das Darüber, wo es zwar wunderschöne Gebäude gab, die von allen darunter jedoch so gut wie nie zur Kenntnis genommen wurden. Viele Fenster waren hinter Metalljalousien versteckt, und die Jalousien hinter einfallsreichen Graffiti und krakeligen Tags. Die gewaltige Leere der nächtlichen Stadt überwältigte ihn jedes Mal aufs Neue. Man konnte allerdings nicht sagen, dass sie tot gewesen wäre. Sie war viel eher wie ein Vampir. Nach Mitternacht waren nur noch Menschen auf der Straße, die aus dem einen oder anderen Grund das Tageslicht scheuten.
    Mit den Knien am Lenkrad beugte er sich über einen Stapel mit CDs, der hinter der Gangschaltung lag, und zog das gewünschte Exemplar heraus. Ohne auf die Ampel zu achten, bog er mit Hundertzwanzig nach links in die Belgrave Road ein und raste auf ihr entlang durch Pimlico. Durch die Vauxhall Bridge Road fuhr er mit knapp Hundertfünfzig Stundenkilometern.
    Beim Überqueren der Themse fragte James Grant sich melancholisch, wer bei klarem Verstand nur in dieser Stadt der Angst leben könne, und es schien eine berechtigte Frage zu sein. Noah liebte London fast so sehr wie die Stimme von James Grant: Beide gaben ihm ein Gefühl von
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