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Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Titel: Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
Autoren: Kai Meyer
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hinunterstiegen.
    »Mein Ding wäre das auch nicht«, stimmte er ihr zu.
    »Ich find’s schon schlimm genug, wenn wir uns mit Hexen und Dämonen rumschlagen müssen, wenn sie denn tatsächlich auftauchen – ich muss das nicht auch noch in der übrigen Zeit tun.«
    Er nickte, sagte aber nichts mehr, denn jetzt wurde vor ihnen der gelbliche Schein einer Leselampe sichtbar.
    Kyra hockte tief gebeugt über einem aufgeschlagenen Buch – den handschriftlichen Aufzeichnungen ihrer Mutter. Die Schrift war winzig und altertümlich. Kyra hielt in einer Hand eine Lupe, in der anderen ein zerfleddertes Nachschlagewerk. Sie hörte die Schritte der beiden und blickte mit einem erleichterten Lächeln auf.
    »Hi!«, rief sie ihnen entgegen, als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren. »Puh, bin ich froh, mal was anderes zu sehen als staubiges Papier.«
    Lisa bemerkte, dass sogar die roten Locken ihrer Freundin eingestaubt waren.
    Kyra legte Lupe und Buch beiseite, stand auf und dehnte mit einem Keuchen und Stöhnen ihre Glieder. »Wenn das so weitergeht, bin ich bald stocksteif, und ihr müsst mich hier raustragen.«
    Lisa blickte ihr über die Schulter ins offene Buch. Sie konnte nur wenige Bruchstücke auf Anhieb entziffern, aber offenbar ging es um Deas Kampf gegen eine Familie von Leichendieben, die während des Dreißigjährigen Krieges die Schlachtfelder der Umgebung heimgesucht hatte.
    »Appetitlich«, murmelte sie.
    Kyra grinste. »Sie hatten eine Vorliebe für junge Männer, weil sie –«
    »Uh, vielen Dank«, unterbrach Lisa sie. »Das reicht schon.«
    Kyra lachte, aber sie wirkte müde und nicht besonders fröhlich.
    Chris erzählte zum zweiten Mal, was ihnen widerfahren war, von dem rätselhaften Flugblatt und dem Plakat, vom alten Bahndamm im Nebel und den drei unheimlichen Waggons. Kyra hörte aufmerksam zu, und schließlich erklärte sie mit einem bedauernden Blick auf das Buch ihrer Mutter: »Ich komme mit.«
    Eigentlich hätte Lisa erleichtert sein sollen, schließlich waren sie genau deswegen hier. Doch tief im Innern spürte sie auch einen scharfen Stich. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, den Abend allein mit Chris zu verbringen.
    Den Abend … Tatsächlich, ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es schon fast halb neun war. Während der Sommermonate blieb es so lange hell, dass die Zeit wie im Flug verging. Der dichte Nebel tat ein Übriges, dass sich das Licht den Tag über nicht verändert hatte. Mit einem Mal erschien Lisa das alles immer unwirklicher, wie in einem Traum.
    Ein Traum, in dem sie und Chris die Hauptrollen spielten. Nur einmal, nur heute. Und natürlich ohne Kyra, die zwischen ihnen stand.
    Du bist tatsächlich eifersüchtig, schalt sie sich, und der Gedanke war ihr schrecklich peinlich. Dabei war Chris während all der Zeit im Archiv nicht von ihrer Seite gewichen.
    Hinter ihnen polterte es, als Herr Fleck die Wendeltreppe herabstieg und sich zu ihnen gesellte. In einer Hand hielt er eine graue Papierrolle mit eingerissenen Rändern.
    »Hier, ich hab was für euch gefunden«, sagte er.
    Chris blickte neugierig auf die Rolle. »Wissen Sie, wohin die Bahnlinie führt?«
    »Geduld, mein Junge, Geduld.« Der Archivar legte das Papier auf den kleinen Tisch, an dem Kyra gesessen hatte, ohne es zu entrollen. »Habt ihr jemals von der alten Sternwarte gehört, tief in den Wäldern im Norden der Stadt?«
    »Ich dachte, die Wälder sind unbewohnt«, sagte Kyra.
    »Sind sie auch – bis auf diese eine Ausnahme«, entgegnete Herr Fleck. »Die Sternwarte wurde um das Jahr 1860 erbaut, etwa zehn Kilometer Luftlinie von hier entfernt. Damals tauchten die ersten Forscher auf, um von dort aus den Sternenhimmel zu beobachten. Das Gebäude steht auf einem Hügel mitten im Wald, und rundherum gibt es kilometerweit nichts als Bäume, Bäume und nochmals Bäume. Eine winzige Straße führt von der anderen Seite der Wälder dorthin, aber die ist inzwischen wohl längst zugewuchert. Die letzten Mitarbeiter der Sternwarte mussten angeblich mit Hubschraubern eingeflogen werden. Am Ende erklärte sich kaum noch jemand bereit, in solch einer Einsamkeit zu arbeiten, und das, obwohl es sich um eine der renommiertesten Anlagen Europas handelt.
    Es gingen auch seltsame Gerüchte um. Einige von denen, die dort geforscht haben, verließen die Sternwarte Hals über Kopf. Sie behaupteten, im Dunkeln leises Singen aus den Wäldern gehört zu haben, und Stimmen, die ihnen zuriefen, sie würden bald alle sterben. Es
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