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Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Titel: Sieben Siegel 05 - Schattenengel
Autoren: Kai Meyer
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müssen. Typisch.
    Im Mondlicht waren die genauen Größenverhältnisse nur schwer zu erahnen, aber Lisa schätzte, dass die breiteste Stelle der Insel kaum mehr als vier Kilometer maß. Es gab keine Bäume, nur schroffe Felsen, auf denen borstiges Gras und ein paar karge Büsche wuchsen.
    Nachdem sich ihre Augen an das fehlende Licht gewöhnt hatten, konnten sie auch das Dorf erkennen. Zu Fuß würden sie etwa eine halbe Stunde brauchen, vorausgesetzt sie gerieten nicht an irgendwelche Felsspalten, die ihnen den Weg versperrten.
    Die Gebäude waren weiß und eng ineinander verschachtelt. Man hatte sie in eine Felswand hineingebaut, die sich über einer scharfen Klippe erhob. Jenseits des Klippenrandes fiel ein tiefer Abgrund zum Meer ab.
    »Seht ihr irgendwo Lichter?«, fragte Chris.

»Kein einziges«, gab Nils zurück. »Sieht aus wie ausgestorben.«
    »Um diese Uhrzeit kein Wunder«, sagte der Professor, bemüht, Optimismus zu verbreiten. »Die Leute werden schlafen. Sie sind wahrscheinlich Fischer oder Ziegenhirten, die früh rausmüssen.«
    Kyra und Lisa wechselten einen zweifelnden Blick, hielten sich aber mit Kommentaren zurück. Beide hatten den gleichen Gedanken: Wenn das da drüben wirklich ein Geisterdorf war, dann war es gewiss kein Zufall, dass sie ausgerechnet hier gelandet waren. Irgendetwas steuerte sie, eine Macht, die nichts mit schlichtem Schicksal zu tun hatte. Jemand oder etwas hatte gewollt, dass sie auf dieser Insel strandeten, abseits jeder Zivilisation. Und beide Mädchen erwarteten mit Bangen den nächsten Zug ihres Gegenspielers.
    Etwa zehn Minuten lang bewegten sie sich über den Pfad zwischen den Felsen nach Norden, näher auf das Dorf zu, als vor ihnen plötzlich zwei Lichter in der Dunkelheit auftauchten.
    Die Scheinwerfer eines Jeeps.
    Mit röhrendem Motor kam das Gefährt auf sie zu. Geröll knirschte unter den breiten Reifen, als der Fahrer den Wagen neben ihnen zum Stehen brachte.
    Hinter dem Steuer saß ein kleiner Mann, dessen Gesicht aussah wie eine Frucht, die zu lange in der Sonne gelegen hatte. Er war dürr und faltig, der salzige Seewind hatte Muster in seine Züge geprägt wie misslungene Meißelschläge eines Bildhauers. Klapprig dünne Beine ragten aus viel zu weiten Shorts. Er trug ein kurzärmeliges Hemd und eine Baseballkappe mit buntem Aufdruck. Lisa versuchte, sein Alter zu schätzen – ohne Erfolg. Der Mann mochte vierzig oder hundert sein, sie konnte es nicht sagen.
    Er grüßte sie in einem halben Dutzend Sprachen, ehe er herausfand, dass sie Deutsche waren.
    »Ich nehme an, Sie sind mit dem Flugzeug runtergekommen«, sagte er mit französischem Akzent zu Kyras Vater und fügte dann mit einem Blick auf die Freunde hinzu: »Ihr habt die Landung doch alle heil überstanden, oder?«
    »Wir sind okay«, sagte Chris, aber er klang nicht besonders freundlich.
    Lisa betrachtete verstohlen ihren Unterarm. Keine Siegel. Aber nach dem, was in der Luft passiert war, hatte das im Augenblick herzlich wenig zu bedeuten. Allerdings, das musste sie sich eingestehen, sah der Mann nicht besonders bedrohlich aus. Eher verschroben.
    »Gestatten, Doktor Jean-Denis Castel«, stellte sich der Franzose vor. »Leiter der meteorologischen Station dieser einladenden Insel. Und ihr einziger Mitarbeiter.«
    »Ein Wetterfrosch«, entfuhr es Lisa. Als alle sie ansahen, räusperte sie sich verschämt. »Ein Wetterforscher, meine ich.«
    Kyras Vater stellte sich vor und nannte nacheinander die Namen der anderen.
    Castel nickte, als erfülle ihn diese Begegnung auf rätselhafte Weise mit tiefer Zufriedenheit.
    »Sie sind unterwegs zum Dorf, vermute ich. Den Weg können sie sich sparen. Dort lebt niemand mehr.«
    Kyra, die gleich Berge von Leichen vor ihrem geistigen Auge sah, wurde bleich. »Was ist passiert?«
    Castel lachte. »Passiert? Gar nichts. Die Menschen haben die Insel schon vor ein paar Jahren verlassen. Es waren sowieso nicht mehr viele übrig. Die jungen Leute zogen seit jeher so bald wie möglich aufs Festland oder auf eine der großen Inseln, und die Alten … na ja, wir alle leben nicht ewig. Manche starben, und der Rest ging fort, als die Fischfanggebiete nicht mehr genug hergaben, um sie zu ernähren.«
    »Heißt das, Sie sind der einzige Mensch, der noch auf dieser Insel lebt?«, fragte der Professor.
    »Ich fürchte, das heißt es.« Der Franzose grinste breit. Seine zahllosen Falten schienen dabei durcheinander zu geraten wie Mikadostäbe. »Wenn Sie jemanden suchen, der
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