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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre
Autoren: Peter Stamm
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Gesichtern. Ich hoffe, du weißt, was du tust, sagte Sonjas Vater.
     
    Zu Hause sah es schrecklich aus. Um Geld zu sparen, hatte ich der Putzfrau gesagt, sie müsse nicht mehr kommen, aber ich hatte weder die Zeit noch die Energie, mich selbst um den Haushalt zu kümmern. Oft hatte ich keine sauberen Kleider mehr, oder ich musste meine Hemden ungebügelt tragen. Die Tiefkühltruhe war voller Fertiggerichte. Sophie schien das aufgewärmte Essen nicht zu stören, sie mochte das Zeug, in der Schule wurde sehr gesund gekocht, und es gab kaum Fleisch. Sie war in dieser Zeit überhaupt sehr brav, spielte, wenn ich arbeiten musste, ganz still mit ihren Puppen und ließ sich ins Bett bringen, ohne sich zu beklagen. Wenn ich am Morgen aufwachte, lag sie oft neben mir, und ich brauchte lange, um sie wach zu kriegen, und kam selbst kaum aus dem Bett. Manchmal schlief ich wieder ein, und sie kam zu spät zur Schule und ich zu spät ins Büro.
    Ich spürte den Verfall meines Körpers. Der Stress, der Alkohol, das Rauchen hatten ihre Spuren hinterlassen. Einmal, als ich am Morgen auf der Toilette saß, fiel mein Blick auf meine nackten Füße, und es war mir, als gehörten sie einem anderen, es waren die Füße eines alten Mannes, durch deren dünn gewordene Haut bläulich die Blutgefäße schimmerten. Das wird nun immer so weitergehen, dachte ich, unaufhaltsam wird mein Körper zerfallen, wird ein Teil nach dem anderen versagen. Ich fühlte mich schwach und unfähig und hatte nicht die Kraft, mich zusammenzunehmen. Dabei war die Situation, in der sich das Büro befand, gar nicht mehr so schlecht. Während ich mich von meinem Selbstmitleid hatte lähmen lassen, hatten sich die jungen Architekten, die für uns arbeiteten, um Aufträge bemüht und einige kleinere Sachen an Land gezogen. Wenn es so weitergeht, kommen wir über die Runden, sagte die Insolvenzverwalterin. Sie redete, als sei es ihre Firma, und in gewissem Sinn war es das ja auch. Wir müssen die Gläubiger davon überzeugen, dass wir es schaffen, sagte sie. Wir machen einen Insolvenzplan, Sie zahlen ab, was Sie können, und in drei Jahren sind Sie schuldenfrei und können von vorn beginnen. Ich sagte, ich wisse nicht, ob ich die Energie dazu hätte. Sie sagte, Sie haben gar keine Wahl. Ich hätte ihr dankbar sein sollen, stattdessen hasste ich sie für ihre Munterkeit und ihren Optimismus.
     
    Ich hatte Sophie hoch und heilig versprochen, sie nie mehr alleine zu Hause zu lassen, aber eines Nachts tat ich es doch wieder. Obwohl es schon Mitte September war, war es seit Tagen heiß gewesen, und ich verspürte eine seltsame Unruhe, eine unbestimmte Erregung. Ich rief bei Antje an, aber niemand war da, und auch an Sonjas Handy meldete sich niemand. Ich arbeitete und trank und rief alle halbe Stunde in Marseille an. Um elf ging Antje endlich an den Apparat. Sie sagte, Sonja schlafe schon. Vor einer halben Stunde wart ihr noch nicht da, und jetzt schläft sie schon? Antje sagte, ich solle nicht mit Steinen werfen, wenn ich im Glashaus sitze. Ich sagte, ich wisse nicht, was sie meine. Dann überleg es dir und ruf Sonja morgen im Büro an. Gute Nacht. Sie hängte auf, bevor ich antworten konnte.
    Ich war mir ganz sicher, dass Sonja nicht zu Hause war, dass sie einen Liebhaber hatte und dass Antje sie deckte. Ich rief Sonja noch einmal auf dem Handy an, aber es meldete sich wieder nur die Mailbox.
    Ich trat vor das Haus und zündete mir einen Zigarillo an. Es war eine warme Nacht, und ich dachte an die Sommer meiner Studentenzeit, als wir bis früh in den Morgen unterwegs waren und erst nach Hause gingen, wenn die Vögel zu singen begannen, betrunken und zugleich ganz klar im Kopf und voller Erwartungen. Das Haus kam mir wie ein Gefängnis vor, eine stickige Zelle, in der ich eingesperrt war, während draußen das Leben tobte, während ganz München sich vergnügte, meine Konkurrenten, meine Gläubiger, sogar die Arbeiter von meiner Baustelle. Es würde Jahre dauern, bis das Geschäft saniert wäre, Jahre, in denen wir von einem Minimum leben mussten, womöglich in irgendeiner billigen Wohnung.
    Ohne lange zu überlegen, stieg ich ins Auto und fuhr los. Sophie hatte einen tiefen Schlaf, und ich würde nicht lange weg sein. Ich hatte ziemlich viel getrunken, aber ich hatte das Gefühl, das Auto zu beherrschen. Es war nicht mehr viel Verkehr, und ich kam gut durch, nach einer halben Stunde parkte ich den Wagen vor Iwonas Haus. Vielleicht war sie ja noch bei der Arbeit, und ich
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