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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre
Autoren: Peter Stamm
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empfand ich keine Schuld. Es kam mir vor, als sei mir alles einfach zugestoßen, ich war so wenig schuld an dem, was geschehen war, wie Sonja oder Iwona oder irgendjemand. Ich war kein Ungeheuer, ich war nicht besser, aber auch nicht schlechter als die anderen. Die ganze Schuldfrage kam mir absurd vor, dennoch merkte ich, dass sie, obwohl ich nie viel darüber nachgedacht hatte, in meinem Leben schon von jeher eine Rolle gespielt hatte. Es war mir, als hätte ich mich von Kind an schuldig gefühlt, nicht für bestimmte Taten oder Unterlassungen, Dinge, die ich hätte ändern können. Vielleicht war es die Erbschuld, ein Mensch zu sein. Wenn ich nur das Gefühl von Schuld loswerden könnte, dann wäre ich frei. Diese Erkenntnis kam mir in meiner Betrunkenheit wie eine große Weisheit vor, und ich fühlte mich wirklich wie befreit.
    Man ist ja nicht eigentlich ein schlechter Mensch, sagte der Franzose, aber man verliert das Licht. Er sprach immer noch über seine Schuld, aber es war mir, als meine er mich. Er hatte mich zu einem Korn eingeladen, und sobald wir unsere Gläser geleert hatten, trat der Wirt an unseren Tisch und schenkte nach, ich weiß nicht, ob auf ein Zeichen hin, jedenfalls trank ich viel zu schnell und noch mehr als sonst. Als ich aufstand, um zur Toilette zu gehen, fiel mein Stuhl hinter mir um, und der Raum begann sich vor meinen Augen zu drehen. Der Franzose hörte mitten im Satz zu reden auf, um, als ich zurückkam, an derselben Stelle fortzufahren. Er sprach über die schwierigsten Dinge mit einer irren Heiterkeit, wie ein Verrückter oder einer, der nichts mehr zu verlieren hat. Je mehr ich trank, desto besser konnte ich ihm folgen. Seine Gedanken schienen von einer zwingenden Logik und Schönheit. Es ist zu spät, sagte er schließlich und seufzte tief. Es wird immer zu spät sein. Zum Glück. Dann stand er auf und ging und ließ mich zurück an meinem Tisch, in meiner Dunkelheit. Ich rief den Wirt und bestellte ein Bier, aber er weigerte sich, mich weiter zu bedienen. Du gehst jetzt besser heim, sagte er, ich rufe dir ein Taxi. Wenn ich nicht so betrunken gewesen wäre, hätte ich wohl Streit angefangen, aber so zog ich nur die Brieftasche heraus und fragte, was ich schuldig sei. Nichts, sagte der Wirt, der Herr hat das schon erledigt. Ich bin frei von Schuld, dachte ich und musste lachen. Der Wirt fasste mich unter dem Arm, aber ich schüttelte ihn ab und ging schwankend zur Tür. Ich bin frei.
    Ich saß im Taxi und wunderte mich, dass es nicht losfuhr. Erst dann wurde mir bewusst, dass der Fahrer mit mir sprach, mich nach meiner Adresse fragte. Ich war müde, und mir war übel. Ich schaute in meine Brieftasche und sah, dass ich kaum noch Bargeld hatte. Ohne lange zu überlegen, nannte ich Iwonas Adresse.
    Die Fahrt hatte nicht lange gedauert, vielleicht war ich auch eingenickt. Jedenfalls klopfte mir der Fahrer auf die Schulter, wir seien da. Er wartete, während ich zur Tür ging und tat, als suche ich den Schlüssel. Ich wandte mich um und sah, dass er ausgestiegen und mir gefolgt war. Er fragte, ob er mir helfen könne. Ich sagte, es komme gleich jemand, er solle verschwinden. Ich fragte, woher er komme. Aus Polen, sagte er. Ich musste lachen und machte einen Schritt rückwärts und wäre hingefallen, wenn er mich nicht aufgefangen hätte. Er fragte, wo er klingeln solle, und ich sagte, Erdgeschoss, links.
    Es dauerte eine Weile, bis Ewa an die Tür kam. Sie war im Morgenrock wie an jenem Nachmittag, als ich zum ersten Mal hier gewesen war. Einen Moment lang schaute sie mich verdutzt durch die Glastür an, dann schien sie mich zu erkennen. Sie schloss auf und fragte den Taxifahrer, ob ich ihn bezahlt hatte. Er nickte und sagte etwas auf Polnisch. Ewa lachte leise und erwiderte etwas und nahm mich am Arm. Ich kann mich noch an den Knall der Tür erinnern, als sie ins Schloss fiel, und an die Stille und die Kühle des Treppenhauses. Mir wurde übel, und ich musste mich übergeben. Ewa hielt mich immer noch am Arm fest und strich mir mit der Hand über den Rücken. Sie sprach zu mir wie zu einem Kind. Sie führte mich in die Wohnung und ins Bad und setzte mich auf die Toilette. Dann nahm sie einen Plastikeimer und einen Lappen und verschwand. Mir war immer noch schwindlig, aber ich war jetzt ziemlich klar im Kopf und fühlte mich etwas besser. Ich hörte Türen und Gemurmel, dann kam Ewa wieder ins Bad und sagte, ich könne bei Iwona im Zimmer schlafen. Ich stand auf und spülte meinen Mund
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