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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre
Autoren: Peter Stamm
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konnte sie abpassen und mitnehmen oder es gleich hier im Auto auf der Rückbank mit ihr treiben. Dann würde ich schlafen können, endlich wieder ruhig schlafen. Ich schaltete das Radio ein und hörte Musik und rauchte. Nach einiger Zeit öffnete ich das Fenster und schaltete das Radio aus, um die Stadt zu hören, die Geräusche der Nacht. Langsam wurde ich nüchterner. Ich hatte mich schon entschlossen zurückzufahren, als mein Handy klingelte. Es war Sonja. Sie fragte mit wütender Stimme, wo ich sei. Im Auto, sagte ich. Bist du verrückt! Und wer ist bei Sophie? Sie schläft, sagte ich. Jetzt wo ich sprach, spürte ich wieder den Alkohol. Ich sagte, ich hätte eben nach Hause fahren wollen. Sonja sagte, ich sei ein Idiot. Und wo hast du dich herumgetrieben?, fragte ich.
    Als ich nach Hause kam, saß unsere Nachbarin im Wohnzimmer. Sie hatte einen Schlüssel, und Sonja hatte sie angerufen und sie gebeten, auf Sophie aufzupassen, bis ich nach Hause komme. Sie sah verschlafen aus und sagte nicht viel, nur, dass alles in Ordnung sei. Natürlich ist alles in Ordnung, ich weiß nicht, was Sonja hat. Die Nachbarin schwieg. Dann gute Nacht, sagte ich, danke. Ich weiß, das ist eine schwierige Zeit für euch, sagte sie, aber du musst dich zusammennehmen. Stell dir vor, es wäre etwas passiert. Ich ging zur Tür und hielt sie ihr auf. Wenn du reden willst, sagte sie. Nein, ich will nicht reden. Gute Nacht.
     
    Am nächsten Tag rief mich Sonjas Mutter im Büro an und sagte, sie würden Sophie gerne für eine Weile zu sich nehmen. Hat Sonja dich darum gebeten? Sie zögerte, dann sagte sie, es wäre bestimmt einfacher für mich, jetzt, wo ich so viel zu tun hätte. Ich fragte mich, ob Sonja ihr erzählt hatte, was geschehen war. Ihre Stimme war ganz sachlich und neutral. Sie muss zur Schule, sagte ich. Papa kann sie hinbringen, sagte Sonjas Mutter, er macht das gern für euch. Ich schwieg. Du kannst sie jederzeit besuchen, sagte sie. Es klang, als wolle sie mir das Sorgerecht entziehen. Ich sagte immer noch nichts. Es ist bestimmt das Beste für das Kind, sagte sie. Ich sagte, ich müsse erst mit Sophie reden. Dann kommen wir heute Abend vorbei und holen sie ab, sagte Sonjas Mutter.
    Ich fragte Sophie, ob sie ein paar Tage zu Oma und Opa in die Ferien wolle. Dein Papa hat sehr viel Arbeit, sagte Sonjas Mutter, als sie am Abend kamen. Sie werde ihr eine Puppe kaufen, die Pipi machen könne. Und sie gehe mit ihr Boot fahren auf dem See und sie habe einen Kuchen gebacken, einen Schokoladekuchen. Du musst nicht mit ihr reden wie mit einer Idiotin, sagte ich. Ich versprach Sophie, sie jeden Tag zu besuchen. Ich kam mir vor wie ein Verräter.
    Ich hatte geglaubt, alles wäre einfacher ohne Sophie, aber das Gegenteil war der Fall. Ich trank jetzt noch mehr und verwahrloste zusehends. Nach der Arbeit ging ich bei den Schwiegereltern vorbei und spielte ein wenig mit Sophie, dann fuhr ich wieder in die Stadt und ging noch einmal ins Büro, um weiterzuarbeiten. Wenn ich nicht mehr konnte, ging ich in eine Kneipe, in der ich sicher sein konnte, keine Bekannten zu treffen. Ich kam mit allen möglichen Leuten ins Gespräch, hörte mir Lebensgeschichten an von Männern, denen ich noch vor wenigen Monaten auf der Straße ausgewichen wäre. Und immer öfter erzählte auch ich meine Geschichte und ließ mir wohlfeile Ratschläge erteilen. Hau doch einfach ab, riet mir einer, der selbst vor vielen Jahren seine Familie verlassen hatte. Seither arbeite er nur noch so viel, dass sie ihm nichts wegnehmen könnten. Ein anderer erzählte, er sei auch mit einer Polin verheiratet gewesen. Ich bin nicht mit ihr verheiratet. Dann heirate sie doch, sagte er. Ich sagte, ich sei schon verheiratet, und er machte eine wegwerfende Handbewegung. Die Weiber sind alle gleich. Manchmal sprachen mich Frauen an und wollten, dass ich mit ihnen ginge. Als eine nicht lockerließ, sagte ich, ich bezahle nicht für Liebe. Und wie bist du zu dem hier gekommen, fragte sie und zeigte auf meinen Ehering.
    Jene Zeit ist in meiner Erinnerung eine einzige lange Nacht, eine Nacht voller wirrer Gespräche und lauter Musik und Gelächter. Ich redete ohne Unterbrechung und ohne mich darum zu kümmern, ob mir jemand zuhörte. Die Geschichte war austauschbar wie der Mann oder die Frau neben mir, wir starrten in dieselbe Richtung, hielten uns an unseren Gläsern fest, bestellten noch ein Bier oder einen Korn. Ich wankte zur Toilette, die hell erleuchtet war. Durch das geöffnete
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