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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre
Autoren: Peter Stamm
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vielleicht waren Nachrichten auf dem Anrufbeantworter.
    Ich stellte mir Sonja vor in einer kleinen Wohnung in Marseille. Sie hatte lange gearbeitet und kam spät heim, müde und trotzdem aufgekratzt. Sie ging noch einmal aus, traf sich mit einem Mann. Ich sah den Fotografen, den Antje damals mit nach Hause gebracht hatte. Er saß neben Sonja in einem Club, sie legte eine Hand auf seinen Oberschenkel und schrie ihm ins Ohr. Die beiden lachten, es war mir, als lachten sie mich aus. Du findest bestimmt bald jemanden, hatte Sonja gesagt, schließlich bist du keine schlechte Partie. Aber ich wollte niemanden finden. Der Gedanke, mich in Lokalen herumzudrücken, mich mit Frauen zu verabreden und noch einmal ganz von vorne anzufangen, war mir zuwider.
    Ich dachte an Iwona. Ich hatte sie nicht mehr gesehen seit jener letzten Nacht vor drei Jahren, der einzigen Nacht, die wir wirklich miteinander verbracht hatten. Ich hatte Ewa nie angerufen, und auch sie hatte sich nicht gemeldet.
    Vermutlich lebten die beiden noch immer in derselben Wohnung. Ich hätte hingehen können und sie besuchen, aber was hätte es für einen Sinn gehabt? Manchmal hatte ich plötzlich an Iwona denken müssen, irgendetwas erinnerte mich an sie, ein Geruch oder eine Frau, die ich auf der Straße sah, oft wusste ich nicht, was der Auslöser für die Erinnerungen war. Dann holte ich zu Hause Sonjas Fotoalbum hervor und schaute mir das Bild an, auf dem sie im Hintergrund zu sehen war, ihr unscharfes, fingernagelgroßes Gesicht, das einzige Bild, das ich von ihr hatte. Dann wünschte ich mir, sie noch einmal zu besitzen, wie ich nie vorher und nie mehr seither einen Menschen besessen habe.
     
    Ich fuhr den Wagen ins Parkhaus und ging hinüber in die Check-in-Halle. Ich war seit der Eröffnung des neuen Flughafens schon ein paar Mal von hier abgeflogen, aber zum ersten Mal fiel mir die Hässlichkeit des Gebäudes auf, das ohne jedes menschliche Maß gebaut zu sein schien. Die wenigen Passagiere, die um diese Zeit hier unterwegs waren, verloren sich in den leeren Räumen. Sie irrten nervös umher wie Ungeziefer, das vom Licht überrascht wird. Es war, als genüge die Halle sich selbst, als sei ihr einziger Zweck, die eigene Größe zu feiern.
    Ich setzte mich in ein Café, von dem aus man in die Halle hinunterschauen konnte. Am Nebentisch saßen zwei junge Frauen mit kleinen Kindern, die auf der ledergepolsterten Bank herumhüpften und von ihren Müttern mit Keksen gefüttert wurden. Ich hörte dem Gespräch der Frauen zu. Sie trafen sich offenbar regelmäßig hier, sie schienen sich an diesem sterilen Ort, der irgendwo auf der Welt sein könnte, wohl zu fühlen. Vielleicht dachten sie, hier könne ihnen nichts passieren.
    Ich ging zur Zuschauerterrasse. Ich war mit Sophie einmal dort gewesen, aber sie hatte sich nicht für die Flugzeuge interessiert und hatte, kaum waren wir da, schon wieder gehen wollen. Auf der Terrasse war außer mir nur ein Mann mit zwei Kindern, der mich misstrauisch anschaute. Dann wandte er sich wieder seinen Kindern zu und sagte, jetzt ist sie weg, und eines der Kinder, ein Junge von vielleicht zehn Jahren, fragte, wo? Ich sehe sie nicht. Da, der Vater zeigte in die Luft, da fliegt sie. Aber da, wo er hinzeigte, war nichts zu sehen außer dem bedeckten Himmel. Kommt, sagte er und dann noch etwas, was ich nicht verstand.
    Tief unter mir beluden ein paar Männer in blauen Latzhosen und gelben Sicherheitswesten ein Flugzeug. Ich schaute auf die Uhr. Antjes Flug ging in einer halben Stunde. Langsam fing es an zu dämmern, und die farbigen Lichter der Pistenbeleuchtung begannen in der kalten Luft zu flimmern. Es roch nach verbranntem Kerosin. All das, der Geruch, der Lärm, das spärlicher werdende Licht, erzeugte in mir ein übermächtiges Fernweh, den Wunsch, wegzugehen und nie mehr zurückzukehren, irgendwo neu anzufangen, in Berlin oder in Österreich oder in der Schweiz. Es war jene Mischung aus Angst und Befreiung, die ich sonst nur empfunden hatte, wenn ich mit Iwona zusammen gewesen war, und auch dann nur für kurze Momente. Ich war nicht fröhlich, aber zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich sehr leicht und wach, als sei ich nach einer langen Bewusstlosigkeit endlich zu mir gekommen. Ich lehnte mich mit dem Rücken an das etwas nach außen geneigte Glas und hob den Kopf und sah über mir den leeren Himmel, der mir auf fast absurde Weise schön zu sein schien.

Über Peter Stamm
    Peter Stamm, geboren 1963, studierte
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