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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre
Autoren: Peter Stamm
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Fenster drang kühle Nachtluft, und für einen Moment dachte ich, ich könnte entkommen, durch das Fenster klettern und mich davonstehlen aus meinem Leben, eine Szene wie aus einem Film. Aber dann ging ich zurück in die Gaststube und setzte mich wieder an die Bar. Der Hocker neben mir war leer, und ich erinnerte mich kaum noch an den Mann, der eben noch da gesessen und mir zugehört hatte.
    Am Ende meiner Kneipentouren fuhr ich oft spät in der Nacht zu Iwonas Haus und wartete, ich wusste nicht worauf. Dann war es mir, als sei mein Leben auf diesen einen Moment zusammengeschrumpft, auf diese Erwartung. Es kümmerte mich nicht mehr, was gewesen war und was kommen würde, ich saß da wie in Trance und starrte auf den Eingang von Iwonas Haus und wartete.
    Einmal schlief ich im Wagen ein und erwachte erst, als ein paar Kinder auf dem Schulweg an die Scheibe klopften und lachend davonrannten. Ich schämte mich, als ich mir vorstellte, Sophie hätte mich so gefunden, aber nicht einmal das half mir, mich zusammenzunehmen. An diesem Tag ging ich nicht ins Büro. Ich fuhr nach Hause und legte mich ins Bett, und als gegen neun die Sekretärin anrief, behauptete ich, ich sei krank und ging gleich wieder ins Bett. Ich erwachte am späten Nachmittag mit fürchterlichen Kopfschmerzen, die erst besser wurden, nachdem ich ein Bier getrunken hatte. Ich rief die Schwiegereltern an und sagte, ich könne heute nicht kommen, ich sei krank. Sonjas Mutter sagte, das mache nichts, sie fände es ohnehin besser, wenn ich nicht jeden Tag käme. Sophie habe sich gut bei ihnen eingelebt. Von da an besuchte ich sie nur noch an den Wochenenden.
    Ich wusste, dass es so nicht weiterging, dass ich meine Gesundheit und meine Familie und meine Firma ruinierte, aber ich hatte nicht die Kraft, etwas zu ändern. Mein Abstieg war eine große Beruhigung nach Jahren der Anstrengung. Endlich würde mir nichts mehr geschehen können. Ich stellte mir ein Leben ohne Bindungen und ohne Verpflichtungen vor. Ich würde irgendwo eine Stelle finden und mir eine kleine Wohnung nehmen und dort alleine leben. Endlich würde ich Zeit haben, Zeit zum Nachdenken, zur Betrachtung. Ich wurde ruhiger, oft war es mir, als betrachte ich mich von außen, als habe ich mit diesem Menschen nichts mehr gemein. Dann bekam alles, was mich umgab, eine große Schönheit und Ruhe. Manchmal war es mir, als erwache ich mitten auf der Straße, ich stand irgendwo und beobachtete den Pausenplatz einer Schule oder eine Baustelle oder sonst eine Szene und wusste nicht, wie lange ich schon so gestanden hatte, und musste nachdenken, bis mir wieder einfiel, wohin ich unterwegs gewesen war.
    Wenn ich abends lange im Büro blieb, dann nur, um die Trinkerei etwas hinauszuzögern. Ich saß an meinem Schreibtisch und spielte Solitär auf dem Computer, bis mir die Hand wehtat von den immer gleichen Bewegungen. Es war gegen elf, als ich mich endlich auf den Weg machte. An diesem Abend fand ein wichtiges Bundesligaspiel statt, und alle Kneipen waren voll mit ausgelassenen Männergruppen. Aber ich sehnte mich nach Langeweile, ich wollte nicht abgelenkt werden, meine Zeit schien mir zu kostbar. Endlich fand ich ein kleines Lokal an einer Straßenecke, in dem kein Fernseher lief und das fast leer war. Ich setzte mich an einen Tisch und bestellte ein Bier und schaute vor mich hin. An der Bar saß ein bulliger Mann, der ungefähr in meinem Alter zu sein schien und der immer wieder zu mir herüberblickte. Nach einer Weile trat er an meinen Tisch, in der Hand sein Glas, und fragte, ob er sich setzen dürfe. Ich nickte, und er setzte sich mir gegenüber und fing sofort an zu reden. Er hatte einen leichten Akzent, vermutlich war er Franzose, es klang, als habe er sein Deutsch aus Büchern gelernt. Seine Sätze waren lang und komplex, und er verwendete viele altertümliche Worte. Es fiel mir nicht ganz leicht, seiner Geschichte zu folgen. Eine Frau war gestorben, ich verstand nicht ganz, in welchem Verhältnis er zu ihr gestanden hatte, jedenfalls gab er sich die Schuld an ihrem Tod. Überhaupt schien er besessen von der Idee der Schuld. Mehr als einmal fragte er mich, ob ich glaube, ohne Schuld zu sein, aber bevor ich antworten konnte, redete er weiter, bis ich nicht mehr zuhörte und nur noch nickte. Ich dachte über die Frage nach. Ich hatte Iwona schlecht behandelt, schuldig konnte ich mich deswegen nicht fühlen. Wenn jemand das Recht hatte, mir Vorwürfe zu machen, dann war es Sonja. Doch auch ihr gegenüber
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