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Sieben

Sieben

Titel: Sieben
Autoren: Mark Frost
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Hirn gepflanzt hatte, die Schenkel spreizte? War sie mit wahrhaftiger Hoffnung hier angekommen? Waren ihre süßen Träume vom Glück ebenso dahingesiecht wie sie, als der Schnaps ihre Zellen zerfressen hatte, oder war sie wie eine Tonpfeife an einem einzelnen katastrophalen Herzeleid zerbrochen?
    Die Kälte biß durch ihren fadenscheinigen Mantel. Sie dachte vage an Familien, die man durch eisblumenverzierte Fensterscheiben beim Weihnachtsessen sehen konnte. Vielleicht war es eine echte Erinnerung, vielleicht aber auch nur ein Holzschnitt auf einer fast vergessenen Glückwunschkarte. Das Bild löste sich auf und wurde durch den Gedanken an das schmutzige Zimmer am anderen Flußufer verdrängt, das sie mit drei anderen Frauen teilte. Die Vorstellung an Schlaf und der Gedanke an die armselige Behaglichkeit ihres Zimmers beflügelten sie. Ihre Beine trotteten steif voran, und in ihrem erschöpften Zustand beschloß sie, sobald sie den Fluß überquert hatte, die Abkürzung nach Aldgate zu nehmen über das leere Grundstück an der Commercial Street.

Das wahre Gesicht
    ALS DOYLE IM offenen Türrahmen stehenblieb, erblickte ihn Lady Nicholson als erste. Er sah, daß sie ihn wiedererkannte und schnell errötete, als sei sie erleichtert, doch dann hatte sie sich wieder gefangen, als wolle sie eine Entdeckung vermeiden. Ein wacher Geist, dachte er, und fast in der gleichen Sekunde: Sie hat das hübscheste Gesicht, das mir je untergekommen ist. Der Tisch war rund, von blassem Leinen bedeckt, und stand in der Mitte des dunklen Raumes. Zwei Petroleumlampen beleuchteten ihn von rechts und links, die Wände verloren sich in der Finsternis. In der Luft hing der schwere, widerliche Geruch von Patschuli, aber auch das trockene Knistern statischer Elektrizität. Als sich Doyles Pupillen weiteten, konnte er vor dem Hintergrund dicker, frei schwebender Brokatgobelins sechs Gestalten ausmachen, die, sich an den Händen haltend, rund um den Tisch Platz genommen hatten. Rechts von Lady Nicholson saß ihr Bruder. Die schwangere Zofe befand sich rechts von ihm, daneben saß der Mann, den Doyle als ihren Gatten identifiziert hatte. Es folgte der dunkelhaarige Mann vom Fenster und schließlich das Medium, dessen rechte Hand Lady Nicholsons linke hielt. Medien bedienten sich für den größten Teil ihrer Theatralik geradewegs aus dem liturgischen Standardrepertoire: Rauch, Finsternis und todernstes, unverständliches Gewäsch. Dies war also die Versammlung, die den Singsang ausgestoßen hatte, eine Frage-und-Antwort-Beschwörungsformel, vom Medium initiiert, der rituelle Prolog, um eine passende Atmosphäre aus Angst und Zeremoniell zu erzeugen.
    Die Augen des Mediums waren geschlossen. Der Kopf, nach hinten geneigt und zur Decke gerichtet, enthüllte fleischige Kehllappen. Es war jene untersetzte, rundliche Frau mit den neuen Schuhen, nun der Last ihrer Überhänge entledigt. Doyle hatte die zahlreichen Praktizierenden der Stadt ob es sich nun um echte oder um Scharlatane handelte im Laufe der Jahre erfaßt und katalogisiert. Doch diese Frau war ihm gänzlich unbekannt. Sie trug ein schwarzes Wollgeflecht, das weder billig noch extravagant war, dazu einen weißen Halskragen, und ihre von Fleisch gefüllten Ärmel waren an den Handgelenken zugeknöpft. Das Gesicht war blutleer und wie ein Streuselkuchen von Muttermalen übersät. Ihr Solarplexus klopfte im heftigen Takt ihrer Atemzüge. Falls sie es nicht gekonnt simulierte, befand sie sich an der Schwelle zur Trance.
    Lady Nicholson, die diese Vorstellung gebannt verfolgte, wurde blaß, ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, und sie zuckte in Erwiderung auf den zunehmend festeren Griff, den die Hand des Mediums auf die ihre ausübte. Die häufigen besorgten Blicke, die ihr Bruder ihr zuwarf, verrieten ebenso wie seine sardonisch erstarrten Gesichtszüge, daß er ihnen die Vorführung abnahm. Die Art, wie der Kopf der Schwangeren nach oben gerichtet war, signalisierte Doyle die traditionelle Aufgabe der bedingungslos Andächtigen. Im Profil besehen arbeiteten die Halsmuskeln ihres Gatten wild, und sein verengter Blick war auf das Medium gerichtet. War er wütend oder verärgert? Nun erblickte der Finstere Doyle. Sein Blick schien die Luft zwischen ihnen zu durchbohren, seine obsidianschwarzen Augen lagen wie Edelsteine in tiefen, runden Höhlen. Fahlgelbe Wangen von der Farbe polierten Teaks, voller Pockennarben, die sich entlang der geschmeidigen Wangen bis über sein Kinn ausbreiteten.
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