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Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Titel: Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)
Autoren: Madeleine Roux
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Sinn, wir wollen einfach nur dasselbe – Stabilität, Sicherheit, die Möglichkeit, wieder etwas Dauerhaftes aufzubauen.
    Es gibt hier Mauern, unvorstellbar dicke Mauern, die mich früher vielleicht gestört hätten. Ich habe mich daran gewöhnt. In diesem Leben, in diesen Tagen, hat ein Heim eben dicke Wände. Wir tun, was wir können, um sie draußenzuhalten und uns in Sicherheit hier drin. Ungefähr dreißig Meter vor den Mauern verläuft ein Graben. Wenn er zu voll wird, setzen wir ihn in Brand. Die Mauern sind mit angespitzten Holzpfählen verstärkt, aber keiner von den Untoten hat es bisher je so weit geschafft. Das Village gleicht mehr einem Fort, einem gut befestigten Campingplatz. Alle Lebenden sind willkommen. Wenn es jemand bis an die Tore geschafft hat, hat er es auch verdient hereinzukommen, so lautet das Gesetz.
    Das Feuer der Barrikaden halten wir in Gang, unsere Soldaten bleiben bewaffnet und wachsam, und wir versuchen, gute Sachen auf die Beine zu stellen. Schöne Dinge, auf die man sich freuen kann. Es ist leichter, einen Haufen Zombies zu verbrennen, wenn du weißt, dass du am nächsten Morgen kleinen Kindern Spanisch beibringst. Fast überall in den Straßen liegt Schrott und Schutt; die ausgebrannten Häuser werden nur langsam restauriert. Über dem Stadtzentrum weht eine Fahne mit einem grünen Unendlichkeitssymbol auf weißem Grund. Es signalisiert, dass alle willkommen sind und dass wir weitermachen, für immer weitermachen.
    Wir haben eine Schule gegründet, die Clarke School. Mein Vorschlag, sie Julian-Clarke-Schule des galligen Sarkasmus zu nennen, wurde einstimmig abgelehnt. Ted unterrichtet Biologie und Chemie, Renny gibt Kunststunden, und ich tue das, wofür ich mal studiert habe: Ich unterrichte Literatur.
    Es belustigt mich, wenn ich daran denke, dass meine Mutter immer die bessere Gelehrte war. Als ich auf die Grundschule kam, hatte ich stets das unheimliche Gefühl, dass alle mich kannten … dabei kannten sie nur meine Mutter, denn es waren ihre Kollegen oder vielmehr ihre Bewunderer. Sie sprengte sich eine Schneise mitten in ihren trockenen, exklusiven Akademiker-Herrenclub und bewies allen, dass eine Frau ein Buch lesen und, genau wie sie, darüber alle möglichen hanebüchenen Theorien aus dem Boden stampfen kann. Das wollte ich auch. Ich wollte in einer Welt leben, in der Männer ihre Nasen über mich rümpfen, damit ich sie an selbigen packen und sie damit in meine grotesk überrecherchierten Abhandlungen stoßen konnte.
    Ich musste das niemals wirklich tun. Ich habe diese Leute gar nicht angetroffen, Snobs, die mich hassen, weil ich eine Frau bin, die naturgemäß nicht klug genug ist, nicht weise genug, nicht hart genug … vielleicht existieren sie ja auch gar nicht mehr. Ihr Platz in der Welt hat sich wohl erledigt. Was ich vorfand, war eine Horde kleiner Kinder, die keine Schule hatten, keine Bücher, keine Lehrer.
    Meine Mom ist nicht hier, noch nicht. Ich halte natürlich jeden Tag nach ihr Ausschau, nehme mir ein, zwei Momente frei vom Unterrichten, setze mich auf den Wall und warte und warte. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, noch nicht, nicht jetzt, wo ich weiß, dass unglaubliche Dinge geschehen können, dass Menschen einen mit ihrem Lebenswillen wirklich überraschen können.
    Was ich von meiner Mutter weiß, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass sie stolz wäre. Ich weiß nicht, ob ihr euch noch an eine Zeit erinnern könnt, wo ihr Die Schatzinsel nicht kanntet oder Eine Geschichte aus zwei Städten oder Die drei Musketiere . Auch die Kinder hier hören diese Geschichten zum allerersten Mal. Ich weiß, das klingt trocken, ist es aber nicht. Diese Bücher gab es nicht in Fort Morgan – in Liberty Village –, als wir ankamen. Die Bücherhalle war geplündert, zerstört, die Bücher waren zu Asche verbrannt. Und so habe ich vor zwei Tagen eine spezielle Rettungsmission durchgeführt. In meinen Augen waren Stevenson, Dickens und Dumas Gefangene, und es war meine Pflicht, ihnen zu helfen. Jetzt sind sie in Sicherheit, erfreuen sich der Wertschätzung dort, wo sie hingehören, in die Hände von Kindern, die dachten, ihr Leben wäre schon vorbei. Man weiß nicht, was Elend ist, bis man in das Gesicht eines Sechsjährigen schaut und erkennt, dass er in seinem kurzen Leben schon schlimmere Tragödien erlebt hat, als man in seinem ganzen Dasein erfahren wird.
    Aber sie lächeln. So wie jetzt, wenn wir im geräumigen Postbüro im Kreis zusammensitzen und
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