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Sie kamen nach Bagdad

Sie kamen nach Bagdad

Titel: Sie kamen nach Bagdad
Autoren: Agatha Christie
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sie gewarnt hatte: zu gehen, ehe es zu spät war.
    Unglaublich, wie viel einem in wenigen Sekunden durch den Kopf gehen konnte. Man musste nicht nachdenken, es kam einfach. Das volle, augenblickliche Wissen. Vielleicht weil es die ganze Zeit im Unterbewusstsein geschlummert hatte. Zugleich setzte sie aufgrund irgendeines Selbsterhaltungstriebs, der wie alle seelischen Vorgänge bei Victoria schnell funktionierte, eine Miene kindischen, sprachlosen Staunens auf. Denn sie fühlte instinktiv, dass sie in großer Gefahr schwebte. Es gab nur eines, das sie retten konnte, sie durfte nur eine Karte ausspielen und sie beeilte sich, es zu tun.
    »Du wusstest es die ganze Zeit«, sagte sie. »Du wusstest, dass ich herkommen würde. Du musst es arrangiert haben. Oh, Edward, du bist fabelhaft!«
    In ihrem Gesicht, diesem beweglichen Gesicht, prägte sich nur ein Gefühl aus – eine fast abstoßende Anbetung. Und sie sah die Wirkung – das leicht verächtliche Lächeln, die Erleichterung. Sie konnte fast Edwards Gedanken lesen: Die kleine Närrin, sie nimmt alles hin. Ich kann mit ihr machen, was ich will.
    »Aber wie hast du es arrangiert?«, fragte sie. »Du musst sehr mächtig sein. Du musst etwas ganz anderes sein, als du vorgibst. Du bist – es ist so, wie du neulich sagtest –, du bist ein König in Babylon.«
    Sie sah den Stolz in seinem Gesicht aufleuchten. Sie sah die Kraft und Stärke, Schönheit und Grausamkeit, die hinter der Fassade des bescheidenen, sympathischen jungen Mannes versteckt gewesen war. Sie sagte schnell und ängstlich, als letzte künstlerische Note: »Aber du liebst mich doch, nicht wahr?«
    Sein Hohn ließ sich jetzt kaum mehr verbergen.
    »Natürlich liebe ich dich«, sagte er.
    »Aber was bedeutet das Ganze? Sag es mir, Edward. Erkläre es mir.«
    »Es ist eine neue Welt, Victoria. Eine neue Welt, die aus dem Schmutz und Schutt der alten entstehen wird.«
    »Sprich! Erzähle!«
    Er sagte es ihr und gegen ihren Willen war sie irgendwie fasziniert. Die alten bösen Dinge müssten einander gegenseitig zerstören. Es müsste ein totaler Krieg kommen zwischen Kapitalisten und Kommunisten und eine völlige Zerstörung. Und dann – der neue Himmel und die neue Erde. Die kleine auserwählte Gruppe höherer Wesen, die Wissenschaftler, die Agrarfachleute, die Administratoren, die jungen Männer wie Edward, die Jungsiegfrieds der tapferen neuen Welt. Alle jung, alle von ihrer Bestimmung als Übermenschen durchdrungen. Wenn die Zerstörung ihren Siegeslauf beendet hatte, würden sie hervortreten und die Macht übernehmen.
    Es war Wahnsinn, aber konstruktiver Wahnsinn, etwas, das in einer erschütterten, in Auflösung begriffenen Welt geschehen konnte.
    Sich behutsam vortastend, denn sie wusste, dass der Tod sehr nahe sein könnte, sagte sie: »Du bist einmalig, Edward, aber ich, was kann ich tun?«
    »Du willst mithelfen, glaubst du denn an unsere Sache?«
    Aber sie war vorsichtig. Keine plötzliche Bekehrung, das wäre zu auffällig.
    »Ich glaube an dich. Alles, was du mir sagst, das ich tun soll, werde ich tun.«
    »Gutes Kind«, murmelte er.
    »Erstens, warum hast du mich nach Bagdad kommen lassen, es muss doch irgendeinen Grund gehabt haben?«
    »Natürlich. Erinnerst du dich, dass ich dich damals fotografiert habe? Mir ist deine Ähnlichkeit mit einer Frau aufgefallen, die uns viel zu schaffen gemacht hat – mit Anna Scheele.«
    »Anna Scheele?« Victoria blickte ihn mit fassungslosem Staunen an, »du willst sagen, dass sie mir ähnlich sieht – «
    »Auffallend, besonders im Profil, da sind die Züge fast identisch. Und dann noch etwas ganz Außergewöhnliches. Du hast eine winzige Narbe, links auf der Oberlippe. Anna Scheele hat ein Mal an genau der gleichen Stelle. Das war ein sehr wertvoller Punkt. Du bist genauso groß und hast die gleiche Figur, sie ist ungefähr vier oder fünf Jahre älter als du. Der Hauptunterschied war das Haar – sie ist eine Blondine.«
    »Und darum wolltest du mich in Bagdad haben, weil ich ihr ähnlich sehe?«.
    »Ja, ich dachte, die Ähnlichkeit könnte uns sehr gelegen kommen.«
    »Und so hast du die ganze Geschichte arrangiert! Die Clipps … wer sind die Clipps?«
    »Sie spielen keine Rolle. Sie tun, was man ihnen sagt.«
    Etwas in Edwards Ton ließ Victoria erschauern. Edward, dachte sie, ist sein eigener Gott. Das ist das Grauenhafte. Laut sagte sie: »Du hast mir doch gesagt, dass Anna Scheele die Bienenkönigin in deinem Lager ist.«
    »Ich musste dir doch
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