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Sie haben mich verkauft

Sie haben mich verkauft

Titel: Sie haben mich verkauft
Autoren: O Kalemi
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habt, und dann tust du mir so was an.«
    Dann kam eines Tages die Polizei zu uns. Ein Auto war gestohlen worden, und es hatte einen Unfall gegeben. Danach haben meine Eltern mir gesagt, Vitalik wohne jetzt in einem Ort namens Gefängnis. Da war er gerade fünfzehn.
     
    Nachdem mein Bruder fort war, kam ich mir beinahe unsichtbar vor. Ich war ein braves Mädchen und machte meinen Eltern nie Kummer, aber ich war auch sehr empfindsam. Jeden Tag schrieb ich in mein Tagebuch, was für böse Sachen meine Mutter und meine Lehrer zu mir gesagt hatten, und es machte mich traurig, dass niemand mich mochte, weil ich die Schlaue in der Klasse war. Und es wurde alles noch schlimmer, als Vitalik ins Gefängnis kam.
    »Das ist die Schwester von dem Dieb«, kicherten meine Klassenkameraden, wenn ich vorbeiging.
    Leute wandten sich von mir ab, wenn ich auf den Spielplatz kam, und Lehrer gaben mir für meine Hausarbeit eine schlechtere Note. Damals gehörte die Ukraine zu Russland beziehungsweise zur Sowjetunion, wo Vieles – und nicht nur ein Bruder im Gefängnis – nicht akzeptabel war. Dazu gehörte auch die Religion. Lenin war unser Gott, und Leute, die etwas anderes glaubten, konnten in Schwierigkeiten geraten. Ich weiß noch, dass eines Tages ein Mädchen in die Schule kam und ein Kruzifix trug, was die Direktorin bemerkte. Ein ganzes Jahr lang haben wir sie dann nicht mehr gesehen. Natürlich gab es Kirchen, und ich bin griechisch-orthodox getauft, aber meine Familie praktizierte ihren Glauben nie offen. Wir begingen christliche Feiertage, aber wir hatten keine Bibel zu Hause und besuchten auch nie einen Gottesdienst.
    In der Ukraine misstraute man dem Anderssein. Kinder wurden dazu erzogen, Homosexualität, schwarze Hautfarbe und alles Ausländische zu verabscheuen. Es gab nur einen großen Supermarkt, in dem alle einkauften, und Luxusgüter oder Lebensmittel aus dem Ausland bekam man dort nicht; Dinge wie Tampons oder Wegwerfwindeln waren völlig unbekannt. Stattdessen aßen wir einfaches Fleisch und einfaches Gemüse, Frauen benutzten Wattebäusche, wenn sie ihre Monatsblutung hatten, und Kinder tranken Milch. Als die Coca-Cola in die Ukraine kam, gab es Viele, die meinten, Cola würde sie krank machen, und ich trank erst mit dreizehn meinen ersten Schluck Cola – am selben Tag, als ich ein Kaugummi probierte.
    Mein Land war auch in anderer Hinsicht hart – es war ein armes Land, und alle mussten arbeiten. Gerade mal ein Dollar am Tag konnte den Unterschied zwischen Essen und Verhungern ausmachen, und mir war schon früh bewusst, dass es manchen Leuten weitaus schlechter ging als meiner Familie.
    Mehr als alles auf der Welt liebte ich Bollywood-Filme. Der Gesang, die Tänze, die Farben, die Kostüme – alles war so wunderschön, und ich war überzeugt, Indien müsse der Himmel auf Erden sein. Mein Lieblingsfilm hieß Disco Dancer mit Mithun Chakraborty in der Hauptrolle. Er war so groß und so attraktiv, und ich sah den Film dreiundzwanzigmal und konnte nicht aufhören zu weinen, als er schließlich abgesetzt wurde. An den Bollywood-Filmen gefiel mir besonders, dass es immer ein Happy End voller Liebe gab. Ich war schließlich überzeugt, dass mein Traumprinz mich eines Tages finden würde, und dann würden wir glücklich leben bis ans Ende unserer Tage. Ich musste einfach nur Geduld haben und auf diesen Tag warten.
    Dann geschah etwas, das all die Farben in meinen Träumen in Grau verwandelte.

KAPITEL 2
    E s war im Jahr 1990. Es war Sommer, ich war vierzehn und war heimlich mit zwei Freundinnen, Natascha und Sweta, an den Strand gefahren. Ich wusste, ich würde Ärger bekommen, wenn Papa das herausfinden sollte, aber Sonnenbaden und mit meinen Freundinnen zu quatschen war so schön gewesen. Jetzt wollten wir uns etwas zu essen kaufen und dann zum Bahnhof gehen; wir hatten eine Stunde Heimfahrt vor uns.
    Wir reihten uns ein, um uns Pasteten zu kaufen. Ein attraktiver Junge stand hinter uns. Er sah aus wie achtzehn, und er trug Shorts, aber kein Hemd, und eine teure Sonnenbrille.
    »Entschuldigung, kannst du uns vielleicht sagen, wie spät es ist?«, fragte Natascha, die sich zu ihm umgedreht hatte.
    Er sah auf die Uhr. »Gleich sechs«, antwortete er.
    Da machte ich mir auf einmal Sorgen. Es war viel später, als ich gedacht hatte. »Wir müssen los«, drängte ich. »Sonst verpassen wir den Zug und sind nie im Leben rechtzeitig zu Hause. Ich muss zurück sein, ehe Mama von der Arbeit kommt.«
    »Nur keine Sorge,
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