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Sibirisches Roulette

Sibirisches Roulette

Titel: Sibirisches Roulette
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Erkenntnis blieb Masuk im Sattel sitzen. Hier fühlte er sich erstaunlicherweise sicher; hier auf dem Pferderücken, höher als Soja, konnte er auf sie hinunterblicken. Jeder Mensch, der auf einen anderen herabblicken kann, fühlt sich stärker. Ein großer Selbstbetrug ist das, aber kaum jemand gesteht es ein. Warum sitzen die Politiker immer auf Podien und Tribünen, immer hoch über dem Volk? Nicht, damit sie besser gesehen werden – so genußvoll anzublicken sind sie nicht –, sondern um der gemeinen Masse zu zeigen: Seht, da sind wir, die euer Leben bestimmen. Wer einmal hier oben sitzt, ist der Stärkere.
    »Was kümmern mich die anderen Leute?« sagte Soja jetzt. »Sie lieben mich nicht … aber wir lieben uns. Ist es nicht so, Lew Andrejewitsch?«
    »Wer weiß von dem Kind?« fragte Masuk dumpf und kaute an der Unterlippe.
    »Niemand. Nur du.«
    »Dein Vater?«
    »Auch nicht. Aber bald wird sich mein Bauch wölben, und dann wird er fragen.«
    So war es! Nicht nur bei Gamsat Wladimowitsch, sondern auch bei Svetlana Victorowna, seiner Frau. Man konnte heimlich tun über eine gewisse Zeit, aber dann … Die Natur macht immer sichtbar, wenn etwas blüht und wächst, ob auf dem Feld oder im menschlichen Leib.
    »Ganz ruhig müssen wir alles überdenken, Soja«, sagte Masuk, aber seine Stimme hatte einen heiseren Klang. »Warum es jetzt schon in alle Welt rufen? Noch bist du schlank wie ein Fohlen.«
    »Was wird aus Svetlana werden?« fragte sie und kam einen Schritt näher an das unruhige Pferd heran. Masuk zuckte mit den Augen, als starre er in eine blendende Sonne.
    »Welche Frage! Was soll aus ihr werden?«
    »Lew, wir werden zusammenbleiben.«
    Masuk zog die Luft zischend durch die Zähne und spürte, wie sein Herz zu schmerzen begann. »Soja, überleg einmal …«, setzte er an, aber sie hob die kleine Hand und wischte seine weiteren Worte weg.
    »Ich will nicht überlegen, ich will dich!«
    Ganz einfach klang das und war doch der Beginn eines neuen Lebens. Masuk klopfte das Blut in den Schläfen, sein Atem stockte, und wenn er nie in all den Jahren Angst verspürt hatte – jetzt war's ihm, als kröche sie in sein Herz hinein und würge es.
    Der Nachmittag am ›Runden See‹ … ein warmer, heller Tag – das Polster des Mooses … Sojas nackter, schimmernder, lockender Körper und ihr Lachen, als sie die Arme ausbreitete; ihr Seufzen, als sie ihm ihre Jugend gab … für Masuk, den alternden Mann, war es ein Flug in den Himmel gewesen. Er hatte dann später an ihrer Seite gelegen, die rechte Hand auf ihrem Leib, hatte in das unendliche, wolkenlose Blau über sich geblickt und hatte gesagt: »Welch ein Glück! Warum haben wir es? Wir werden einmal dafür büßen müssen …«
    Und jetzt wuchs das Kind in Sojas Leib. Die Zeit der Buße brach an.
    Rudenko und Goldanski hatten längst das Dorf erreicht und ritten nun durch Lebedewka wie heimkehrende Kosaken. Auf der Straße rief man ihnen Fragen zu, aus den Vorgärten winkten sie ihnen mit Händen oder Geräten, und Rudenko lachte, schüttelte seine Hand über dem Kopf und rief zurück: »Alles in Ordnung, Genossen! Der Damm hat sich verkrümelt. Ein Jahr wirft sie das zurück … na, sagen wir, ein halbes Jahr. Ein großer Erfolg, liebe Freunde!«
    Man beklatschte seine Worte, als habe er mit schöner Stimme gesungen. Vor seinem Haus lief Goldanskis Frau ihnen entgegen, mit ausgebreiteten Armen, als sei Samson Lukanowitsch jahrelang weg gewesen im Krieg. Und ein Krieg war es ja auch, ein kleiner, winziger Krieg, ein verzweifelter Kampf aus dem Dunkel heraus, ein Feldzug einsamer Männer gegen ein übermächtiges Regime, das im fernen Moskau an einem Schreibtisch beschlossen hatte: Wir werden den Kanal Sibirien – Mittelasien bauen, den Sibir-Aral-Kanal, das größte Bauwerk, das je ein Mensch vollendet hat. Die Große Chinesische Mauer wird dann kein Weltwunder mehr sein; nicht das einzige Menschenwerk, das man vom Mond aus sehen kann … der zweitausendfünfhundertundfünfzig Kilometer lange, zweihundert Meter breite und fünfzehn Meter tiefe Kanal wird es sein; die neuen blühenden Millionen Hektar Land, fruchtbare Ackerflächen statt sonnenversengter Wüste. Mit zwei Ernten im Jahr, wo früher nur Wetterdisteln wuchsen. Wogende Felder statt harter Grassteppe. Neuer Lebensraum für drei Millionen junger Tadschiken, Usbeken, Kirgisen und Kasachen im Jahre 2000.
    Ein Bild, dem Paradies nahe. Daß aber eine Sonne auch Schatten schafft, blieb unerwähnt. Aus
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