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Sibirisches Roulette

Sibirisches Roulette

Titel: Sibirisches Roulette
Autoren: Heinz G. Konsalik
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der Nähe eines Sees und dem dazugehörigen Bach das ›Haus‹ der Trofimows; ein armseliges Hüttlein, das sich in den letzten hundert Jahren kaum verändert hatte. Nur ab und zu wurde es – vielleicht alle zwanzig Jahre – mit einem Gemisch aus Holzfarbe und Teer gestrichen. So war es ganz schwarz geworden, und man nannte es auch in Lebedewka das ›Schwarze Haus‹, was kein Ehrenname war, vielmehr ein Schimpfwort, ein Wort der Verachtung. Den Kindern, die etwas angestellt hatten, drohte man: »Ich sperre dich in das Schwarze Haus!« Und wenn man in fröhlicher Runde des Wodkas oder des Birkenweins genug hatte, sang man im Chor: »Im Schwarzen Haus, im Schwarzen Haus, da lebt die Ratt', da lebt die Laus …« Ein Flecken also, von dem die Lebedewkaner wünschten, es gäbe ihn gar nicht.
    Die Trofimows kümmerte das wenig. Seit Generationen – so lange ging das nun schon – waren sie Außenseiter in der durch die harte Natur auf Gedeih und Verderb zusammengeschweißten Dorfgemeinschaft und lebten doch weiter. Das Kreuz, das sie über all die Jahrzehnte zu tragen hatten, war der Alkohol. Der erste bekannte Trofimow baute sich 1853 in der Wildnis der verfilzten Wälder am Tobol sein Blockhaus, eben das Schwarze Haus, eine Art kleine Festung, ein Kreml aus dicken Stämmen. Und dazu einen Zaun aus zugespitzten Palisaden. So mußten die ersten Festungen der Stroganoffs in Sibirien ausgesehen haben; jene Stützpunkte, die der wilde Jermak bei seinem Eroberungszug durch das ›Jungfräuliche Land‹ überall hinterlassen hatte; trutzige Holzburgen, die verkündeten: Hier gehen die Jahrhunderte vorbei, aber wir bleiben.
    Woher der erste Trofimow kam, wußte keiner mehr. Er war plötzlich da, tauchte aus der Taiga auf, sah sich im Kreise um und soll gesagt haben: »Hier bleibe ich. Hier ist Anfang und Ende.« Überlieferungen, aber das waren auch nur bessere Märchen, berichteten davon, daß Trofimow ein entlassener Sibirienverbannter gewesen sein soll, vielleicht sogar ein geflüchteter, einer, den die zaristischen Schergen suchten, aber in den weglosen Wäldern natürlich nie fanden. Und so armselig er auch damals gewesen war – gesucht, gehetzt, dem sagenhaften grauen Wolf gleich, gegen den sogar die Popen in den Kirchen predigten und das Kreuz schlugen wie vor dem Satan –, eines hatte Trofimow bei sich: Wodka. Und das erste, was er in der Landwirtschaft anpackte, war das Ausgraben von wildwachsenden Kartoffeln und hartem Wildweizen, was er zermahlte und gären ließ, um daraus einen widerlichen Fusel zu brennen, in einem Eisentopf über dem Holzfeuer, mit einem zu Windungen gebogenen Bleirohr als Kühlschlange. Topf, Deckel und Rohr hatte er vorher in der kleinen Siedlung Sawodorowsk gestohlen, einem Flecken Menschheit aus neunzehn Häusern; heute ist das eine kleine Stadt. Wie wertvoll war damals in der Wildnis ein Eisentopf. Jetzt ist es ein Schimpfwort. Sagt man zu einem Sibirier: »Du verrosteter Eisentopf!«, so kann man sicher sein, daß er beleidigt ist.
    Ein Wunder bleibt's, daß dieser Trofimow sein Gebräu überlebte. Nicht nur das: Er behielt genügend Kraft, um das Land und seinen Kreml zu roden, trockenzulegen, Felder anzulegen und aus Weidenästen Reusen zu flechten und in dem kleinen See oder im Tobol reichlich Fische zu fangen. An Fleisch mangelte es damals nicht; es kam ihm bis vor die Tür gelaufen, und er schoß es sich mit Pfeil und Bogen, also lautlos, was die Tiere nicht erschreckte und verscheuchte. Nicht zum Feind wurde er, sondern zum Teil der mächtigen Natur, ihr gehorchend und sie doch für sich nutzbar machend.
    Irgendwie war dann eine Frau im Haus. Logisch. Woher hätte es sonst Nachkommen geben können? Woher sie kam, blieb ebenfalls im dunkeln. Gehässige Menschen im heutigen Lebedewka behaupteten, er habe sie gestohlen, einfach mitgenommen, entführt – so wie früher die Tataren ausritten auf Frauenfang zu den benachbarten Völkern, die Männer und die Kinder niedermetzelten und nur die Frauen mitnahmen. Auch das war eine böse Sage, aber es hörte sich schön und schaurig an. Mag sein, daß der erste bekannte Trofimow sich seine Frau irgendwo raubte – etwas mußte an ihm gewesen sein, das liebenswert war, denn die Frau blieb bei ihm, versuchte keine Flucht und gebar ihm offensichtlich freiwillig einige Kinder. Als sie starb, baute ihr Trofimow aus dicken Balken ein Denkmal und begrub sie darunter. Es steht noch heute an seinem Platz, nach über hundert Jahren, und der
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