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Shutter Island

Titel: Shutter Island
Autoren: Dennis Lehane
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stoppelige Kinn. »O ja, weiß ich noch.«
    »Weißt du auch noch, wie oft die Wettervorhersage richtig war?«
    Chuck runzelte die Stirn, damit Teddy sah, dass er gebührend darüber nachdachte. Dann schnalzte er mit der Zunge und sagte: »Zu ungefähr dreißig Prozent, würde ich sagen.«
    »Höchstens.«
    Chuck nickte. »Höchstens.«
    »Und nun, da wir wieder im richtigen Leben sind …«
    »Tja, zurück im richtigen Leben«, erwiderte Chuck. »Inkognito, könnte man sagen.«
    Teddy unterdrückte ein Lachen, inzwischen war ihm der Kerl echt sympathisch. Inkognito. O Mann.
    »Inkognito«, stimmte Teddy zu. »Warum solltest du der Wettervorhersage jetzt mehr Glauben schenken als früher?«
    »Hm«, brummte Chuck, und am Horizont tauchte eine kleine schiefe Spitze auf, »ich weiß nicht, ob man meine Glaubenskraft in Kategorien wie weniger oder mehr messen kann. Willst du eine Zigarette?«
    Teddy wollte seine Jackentaschen ein zweites Mal abklopfen. Er hielt inne, weil er merkte, dass Chuck ihn mit einem schiefen Grinsen beobachtete.
    »Als ich an Bord gegangen bin, hatte ich sie noch«, sagte Teddy.
    Chuck sah sich über die Schulter um. »Typisch Beamte. Klauen, wo sie können.« Er schüttelte eine Zigarette aus seiner Schachtel Lucky Strikes, reichte sie Teddy und hielt ihm sein Messing-Zippo hin. Der stechende Kerosingeruch überlagerte die salzige Luft und reizte Teddys Hals. Chuck ließ das Feuerzeug zuschnappen, klappte es mit einer lässigen Bewegung wieder auf und gab sich selbst Feuer.
    Teddy atmete aus, und die dreieckige Spitze verschwand vorübergehend hinter einer Rauchwolke.
    »In Übersee«, sagte Chuck, »gab damals die Wettervorhersage den Ausschlag, ob man mit dem Fallschirm zurück zur Absprungstelle oder weiter zum Brückenkopf musste, stimmt, aber da stand ja auch viel mehr auf dem Spiel, oder?«
    »Ja.«
    »Aber hier bei uns, da kann man doch ruhig mal was Unvernünftiges glauben. Mehr will ich gar nicht sagen, Chef.«
    Jetzt ließ die Insel mehr als ihre dreieckige Spitze erkennen, allmählich wurden die tiefer liegenden Bereiche sichtbar, und schließlich erstreckte sich das Meer flach bis an ihr Ufer. Die Farben kamen wie von Pinselstrichen hinzu – ein abgetöntes Grün, wo die Vegetation ungehindert wucherte, ein lehmbrauner Uferstreifen und das trübe Ocker der Klippen an der Nordseite. Über allem konnten sie, je näher sie kamen, die niedrigen Mauern von Gebäuden ausmachen.
    »Ist ’ne Schande«, sagte Chuck.
    »Was denn?«
    »Der Preis des Fortschritts.« Er stellte einen Fuß auf das Schlepptau und lehnte sich neben Teddy an die Reling. Zusammen beobachteten sie, wie die Insel versuchte, in Erscheinung zu treten. »Heutzutage gibt es richtige Quantensprünge bei der Behandlung von Geisteskranken – wirklich, das glaubt man gar nicht, jeden Tag geht es vorwärts –, da gehören Häuser wie dieses bald der Vergangenheit an. In zwanzig Jahren wird man sagen, so was ist unmenschlich. Ein trauriges Überbleibsel längst überholter viktorianischer Wertvorstellungen. Gut, dass sie überholt sind, wird man sagen. Man wird Eingliederung fordern. Eingliederung wird das Gebot der Stunde sein. Wir nehmen jeden in unserer großen Herde auf. Geben ihm Ruhe. Richten ihn auf. Jeder ist ein Marshal der Bundesregierung. Wir leben in einer neuen Gesellschaft, hier ist kein Platz für Ausgrenzung. Auf Wiedersehen, Elba.«
    Die Gebäude waren wieder hinter den Bäumen verschwunden, aber Teddy erkannte nun den verschwommenen Umriss eines kegelförmigen Turms und dann hart vorspringende Ecken. Das musste die alte Festung sein.
    »Aber müssen wir die Vergangenheit fortwerfen, um eine Zukunft zu haben?« Chuck schnippte die Zigarette in die Gischt. »Das ist die entscheidende Frage. Was wirft man fort, wenn man den Boden fegt, Teddy? Staub. Krümel, die sich sonst die Ameisen holen würden. Aber was ist mit dem verlorenen Ohrring? Landet der auch im Müll?«
    »Was für ein Ohrring?«, fragte Teddy. »Der Ohrring einer Frau?«
    »Es gibt immer eine Frau, nicht?«
    Das Brummen des Motors hinter Teddy bekam einen anderen Klang. Er spürte, dass die Fähre leicht ruckte. Da sie nun zur Westseite der Insel fuhren, war die Festung auf den südlichen Klippen besser zu sehen. Kanonen gab es keine mehr, aber die Gefechtstürme waren noch gut zu erkennen. Hinter der Festung ging die Landschaft wieder in Hügel über. Teddy vermutete, dass dort die Mauern waren, die vom Meer aus gesehen mit der Landschaft
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