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Shutter Island

Titel: Shutter Island
Autoren: Dennis Lehane
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haben. Wozu?
    Die größten Exemplare unserer Tierwelt waren Ratten. Sie raschelten im Unterholz, tummelten sich nachts am Ufer und huschten über nasse Felsen. Einige waren so groß wie Flundern. In den Jahren nach jenen vier denkwürdigen Tagen im Spätsommer 1954 gewöhnte ich mir an, in einer Spalte in den Klippen der Nordküste zu sitzen und die Ratten zu beobachten. Fasziniert entdeckte ich, dass einige versuchten, nach Paddock Island zu schwimmen, kaum mehr als ein Fels im Sand, der jeden Tag zweiundzwanzig Stunden vom Wasser bedeckt war. Wenn die Insel bei niedrigstem Wasserstand ein, zwei Stunden lang auftauchte, schwammen sie manchmal los, diese Ratten, nie mehr als ein gutes Dutzend, doch die Rippströmung riss sie immer wieder zurück.
    Ich schreibe ›immer‹, aber das stimmt nicht. Eine hat es mal geschafft. Einmal. In einer hellen Vollmondnacht im Oktober 1956. Ich sah sie, einem schwarzen Mokassin gleich, über den Sand huschen.
    Glaube ich jedenfalls. Emily, die ich auf der Insel kennen gelernt habe, wird sagen: »Lester, das kann nicht sein. Die Insel ist zu weit weg.«
    Sie hat Recht.
    Und trotzdem weiß ich, was ich gesehen habe. Ein dicker Mokassin flitzte über den Sand, den perlgrauen Sand, der bereits langsam versank, weil die Flut Paddock Island wieder verschluckte. Wohl auch die Ratte, denn ich habe sie nicht zurückschwimmen sehen.
    Aber in dem Augenblick, als ich sie sah (und ich habe sie gesehen, wirklich, von wegen weit weg), dachte ich an Teddy. Ich dachte an Teddy und an seine arme tote Frau, Dolores Chanal, an die schrecklichen zwei, Rachel Solando und Andrew Laeddis, und welche Katastrophe sie über uns hereinbrechen ließen. Ich dachte, wenn Teddy neben mir säße, hätte er die Ratte auch gesehen. Bestimmt.
    Und soll ich noch was sagen?
    Teddy?
    Der hätte geklatscht.

ERSTER TAG Rachel

1
    TEDDY DANIELS’ VATER war Fischer. 1931 verlor er sein Schiff an die Bank, da war Teddy elf, und den Rest seines Lebens heuerte er auf anderen Booten an oder löschte Fracht an den Docks, wenn es auf den Schiffen nichts für ihn zu tun gab. Über lange Zeiträume war er morgens um zehn zurück, saß im Sessel, betrachtete seine Hände und redete zuweilen leise mit sich selbst, die Augen groß und dunkel.
    Als kleinen Jungen hatte er Teddy mit zu den Inseln genommen, aber Teddy war zu klein, um auf dem Boot eine große Hilfe zu sein. Er hatte nur die Leinen entwirrt und die Haken gelöst. Mehrmals hatte er sich geschnitten. Blutstropfen standen auf seinen Fingerkuppen und verschmierten seine Handflächen.
    Im Dunkeln waren sie aufgebrochen, und die aufgehende Sonne schob sich, gleich kaltem Elfenbein, aus dem Wasser. Zusammengekauert traten die Inseln aus der Dämmerung, als seien sie bei etwas Verbotenem ertappt worden.
    Am Strand einer Insel sah Teddy kleine, pastellfarbene Hütten, auf einer anderen ein verfallendes Kalksteingebäude. Sein Vater zeigte ihm das Gefängnis auf Deer Island und die imposante Festung auf Georges Island. In den hohen Bäumen von Thompson Island saßen unzählige Vögel, ihr Gezwitscher war ein Sturm aus Hagel- und Glassplittern.
    Shutter Island lag weiter draußen, hinter den anderen Inseln, als sei sie von einer spanischen Galeone über Bord geworfen worden. Damals, im Frühjahr 1928, war sie sich selbst überlassen, wurde von Grün überwuchert. Die Festung auf dem höchsten Punkt der Insel erstickte unter Kletterpflanzen und einer Moosschicht.
    »Wieso heißt sie Shutter Island?«, fragte Teddy.
    Sein Vater zuckte mit den Achseln. »Du immer mit deinen Fragen. Musst ständig fragen.«
    »Und, warum heißt sie so?«
    »Manche Sachen bekommen einfach einen Namen, und so heißen sie dann. Wahrscheinlich von Piraten.«
    »Piraten?« Das hörte sich gut an. Teddy konnte sie sich vorstellen: große Männer mit Augenklappen, Stulpenstiefeln und blitzenden Schwertern.
    »Hier haben sich die Piraten damals versteckt«, sagte sein Vater. Mit einer ausholenden Handbewegung wischte er über den Horizont. »Auf diesen Inseln. Sich selbst – und ihr Gold.«
    Teddy sah Münzen vor sich, die aus Schatztruhen quollen.
    Später dann wurde ihm schlecht, und er übergab sich mehrmals heftig, schleuderte dunkles Erbrochenes über die Reling ins Wasser.
    Sein Vater war erstaunt, weil Teddy erst nach mehreren Stunden schlecht geworden war. Das Meer war längst wieder glatt und glitzerte in seiner Ruhe. Sein Vater sagte: »Schon in Ordnung. Ist ja dein erstes Mal. Brauchst dich nicht
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