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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K.
Autoren: Ein fatales Erbe
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erhellten Raum, weg von dem Mann in jenem
Raum, der ihre große Liebe ist ... ihre große Liebe war. Sie sieht
ihn jetzt ganz deutlich auf dem Bahnsteig: Er geht von ihr weg, streicht sich
mit seinen langen, aristokratischen Fingern die Ponyfransen aus der Stirn. Sie
ruft seinen Namen, doch als er sich umdreht, ist sein Gesicht ein
verschwommener Fleck, wie bei einem Undercover-Zeugen in einem Polizeivideo.
    »Warum kann ich dein Gesicht nicht erkennen?« Sie gerät in
Panik. »Was ist da sonst noch, was ich nicht sehen kann?« Sie erinnert sich
an das verlegene Gemurmel des Polizisten: »Da der toxikologische Bericht
keinen eindeutigen Befund ergab ...«
    »Hast du Drogen genommen? Was hab ich sonst noch nicht von
dir gewusst? Gibt es einen zweiten Namen? Eine zweite Liebe? Ein zweites
Leben?«
    Der Zug nähert sich: »Tu-es-für-ihn, tu-es-mit-ihm, tu-es,
tu-es ...« Plötzlich ist ihr alles klar. Ihr ist klar, was sie mit seinen Geheimnissen
anfangen soll, wo sie die Wahrheit findet. Dazu muss sie sofort ins Ausland
fliegen, ein paar Stornierungen vornehmen, ein paar Lügen erfinden ...
    »Hör zu«, sie benutzt sogar seinen Lieblingsausdruck, um
ihn zu überzeugen, »Ich habe keine Wahl, für mich ist das eine Nullvariante.
Ich muss gehen. Um den Rest deiner Seele zu finden. Selbst wenn es mich
zerstört.«
     
    TARAS
     
    1
     
    SUCHE
     
    Wie armselig ist ein Gedächtnis, das nur rückwärts
funktioniert.
    Die Weiße Königin aus Alice
hinter den Spiegeln Lewis Carroll (1832-1898)
     
    Moskau, Februar 2001
    »Es liegt an der Beleuchtung«, beruhigt er sich selbst.
»Die gruslige Beleuchtung ist der Grund.« Die Fliesen unterhalb der Leuchtstoffröhre
glänzen. Im künstlichen blauen Schimmer, der den Raum erfüllt, wirkt sein
Spiegelbild bleich, die Sommersprossen wirken wie abgewaschen. Taras steht am
Ausguss und weiß nicht recht, was er mit seinen Händen anfangen soll. Der Raum
ist schraffiert mit den Schatten der riesigen restlichen Neonlettern von LFA-BANK auf dem
Dach des gegenüberliegenden Gebäudes.
    Da außer ihm niemand im Waschraum ist, kann Taras in aller
Ruhe sein Spiegelbild betrachten, während er sich gründlich die Hände schrubbt:
totenblasser Teint, schwarzer Schatten auf der Unterlippe. Die Oberlippe
verschwindet unter einem dünnen Streifen weizengelben Bartwuchses. Sieht er mit
Schnurrbart tatsächlich älter aus, wie seine Vermieterin behauptet? Und was
meinte sie mit »älter«? Reif und distinguiert - oder verhärmt und abgezehrt?
    Taras studiert sein Gesicht, ob irgendetwas auf die
heutige Entdeckung hindeutet - eine Spur, ein verstecktes Lächeln -, aber aus
dem Spiegel starrt ihm nur stumpf diese blasse Maske entgegen. So müde kann
er doch nicht sein? »Es liegt eindeutig an der Beleuchtung«, sagt er sich.
Tja, und die Hände. »Ich wasche sie mir heute erst zum fünften Mal - ziemlicher
Fortschritt im Vergleich zu gestern«, er registriert das ganz objektiv, wie ein
Nachhilfelehrer, der zu einem nicht besonders begabten Schüler spricht.
    Er streckt die Handflächen aus und betrachtet sie
unschlüssig. »Was jetzt? Abtrocknen mit einem Papierhandtuch oder durch den
Flur laufen und hektisch flattern wie ein aufgeregter junger Gockel?«
    »Treten Sie würdevoll auf, Leutnant Petrenko.« Der
Nachhilfelehrer runzelt die Stirn.
    Taras verlässt den Waschraum, stößt die Tür mit der
Schulter auf und geht auf den behaglichen Lichtschein zu, der am Ende des Flurs
aus der Loge des Wachmanns fällt. Die passt gar nicht hierher. Ein Sperrholzverschlag
am Eingang eines Bauwerks, in dem jede einzelne Säule ein Monument der Macht
darstellt. Auch der Wachmann scheint nicht hierher zu passen. Der Sergeant mit
der strengen, ausdruckslosen Miene ist für immer verschwunden. In der Kabine
sitzt ein pensionierter Oberst, der aus einer angeschlagenen rotgeblümten
Tasse mit Goldrand seinen Kräutertee schlürft. Ein milder Duft nach
getrockneten Himbeerblättern, ein vertrauter Kindheitsduft, erfüllt den
Verschlag. Der Wachmann blickt von seiner Iswestija auf. »So
spät noch im Haus, Leutnant Petrenko? Feiern Sie nicht den Tag der Roten
Armee?« Der Wachmann lässt sich nichts von seiner Überraschung anmerken.
Langes Training. Oder vielmehr, es geht ihn einfach nichts mehr an. Die Zeiten,
in denen er die Köpfe anderer Menschen durchleuchtet hat, sind vorbei - er
bessert hier nur seine Pension auf.
    Was er sich wohl von dem Extrageld kauft?, überlegt Taras
und meldet sich ab. Ein
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