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Shardik

Titel: Shardik
Autoren: Richard Adams
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Sicherheit und Widerstandskraft im Leben wird als ebensolches Unrecht betrachtet, als würden es die Eltern in die Sklaverei verkaufen. Alle Anhänger Shardiks – so nennen sie den Bären – haben die Pflicht, für obdachlose oder verlassene Kinder zu sorgen, wo immer sie sie finden. In dieser Stadt gibt es viele solche Kinder, Waisen oder Vernachlässigte, die aus den weiter westlich liegenden Provinzen hierhergebracht wurden und mehr oder minder gewissenhaft betreut werden. Der Statthalter – ein alles in allem, scheint mir, tüchtiger, wenn auch in seinem Land nicht besonders hoch geachteter und vielleicht in seiner Art ein wenig seltsamer Mann – und seine junge Frau nehmen eine bedeutende Stellung in dem Kult ein und haben tatsächlich die Stadt rund um die Kinder organisiert, die zwei Drittel der Einwohnerschaft ausmachen. Sie arbeiten teils unter der Leitung von Erwachsenen, teils unter der ihrer eigenen Anführer, und obwohl viele Arbeiten erwartungsgemäß unfachmännisch, unvollständig oder unbeholfen ausgeführt sind, macht das in einer Provinz wie dieser wenig aus, wo es vor allem auf schnelle Erfolge ankommt und wo die gute Qualität weit hinter der Nützlichkeit und der Befriedigung dringender Erfordernisse zurücksteht. Niemand könnte leugnen, daß dieser erstaunlich wohltätige Kult Edelmut und Selbstaufopferung erfordert, wobei der Statthalter und sein Haushalt gewiß ein Beispiel geben, denn sie leben sichtlich ebenso einfach wie die anderen. Die Bedingungen sind für die Kinder mehr schlecht als recht, aber der Statthalter genießt die gleichen Bedingungen und scheint viel dazu zu tun, das Gefühl für eine echte Kameradschaft zu fördern. Ich muß einfach annehmen, daß in diesem Gedanken trotz der abergläubischen Bärenverehrung echter Wert steckt. Es ist interessant zu beobachten, wie die Vernunft aus der Legende zum Vorschein kommt und einen Zustand erreicht, der sich ungefähr dem des Landes Eurer Majestät nähert; Eure Majestät wird gewiß verstehen, daß ich den Mangel an zivilisierter Bequemlichkeit äußerst stark empfinde.«
    Siristru machte eine Pause, streckte seine Finger und blickte auf. Das Tageslicht war beinahe erloschen. Er erhob sich, schob die Bank zurück, auf der er gesessen hatte, ging ans Fenster und blickte nach Westen. Das Wohnhaus des Statthalters stand fast am Stadtrand, und zwischen ihm und dem Land dahinter lag nur eine schmale Straße und eine Palisade, die offenbar die Rolle der Stadtmauer spielte. In dem gelblichen Abendrot erstreckte sich eine Landschaft von Wald und Sümpfen bis in die dunkelnde Ferne. Im Vordergrund gab es da und dort Flecken gepflügten Landes, einige Bewässerungskanäle, breite Schilfgebiete und gelegentlich Wasserstreifen, die in fahlerem Gelb als der Himmel glänzten. Es wurde kühl. Im Inland schien sich der Wind wieder zu erheben, denn Siristru konnte weiter draußen, in der trostlosen Einsamkeit, die Bewegung der wild wuchernden Wälder erkennen. Die Nacht senkte sich über das traurige, unwirtliche Land, in dem er, so weit er blicken konnte, weder Licht noch Rauch sah. Er erschauerte und wollte ins Zimmer zurückgehen, als er über die Straße das Herannahen von Schritten vernahm. Er wartete in müßiger Neugier, und bald erschien eine alte, schwarz gekleidete Frau, die ein zusammengebundenes Holzbündel auf dem Rücken trug. Sie trottete heimwärts, ihre nackten Füße patschten auf dem Boden, das Bündel hob und senkte sich auf ihrem Rücken. In den Armen trug sie ein kleines, blondes Mädchen, und Siristru hörte, wie sie in einem ruhigen, gemächlichen Rhythmus, ausdruckslos und tröstend wie das Geräusch eines Mühlrads oder Vogelgesangs, dem Kind zumurmelte. Als sie unter dem Fenster vorbeikamen, blickte das Kind nach oben, sah ihn und winkte mit der Hand. Er winkte zurück, und dabei spürte er, daß hinter ihm jemand im Zimmer stand. Er wandte sich ein wenig verlegen um und sah das Mädchen Zilthe, das auf ihn zukam und einige Worte sagte, die er nicht verstehen konnte. Als sie das merkte, hob sie das Tablett mit unentzündeten Lampen, das sie trug, lächelnd hoch und nickte in Richtung zum Feuer.
    »Ja, gewiß, zünde sie doch an«, antwortete er. »Du störst mich nicht.«
    Sie nahm einen brennenden Zweig und entzündete nacheinander die Dochte, stutzte sie und stellte mehrere Lampen auf, bis der Raum hell und gut beleuchtet war. Die übrigen trug sie fort, und Siristru setzte sich, allein geblieben, vor das Feuer,
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