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Shanghai Love Story

Shanghai Love Story

Titel: Shanghai Love Story
Autoren: Sally Rippin
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angeschossen und traf ihn an der Schulter. Wie in Zeitlupe stürzte er die Treppe hinunter. Sein Schädel prallte mit einem dumpfen Knall auf den Asphalt.
    Der kleine Chinese schüttelte den Kopf und kehrte in die Bar zurück, die zwei Männer in seinem Fahrwasser. Chenxi lag still und wartete, bis er wieder klar sehen konnte, bis der Zorn, der in ihm hochkochte, wieder verraucht war. Lao Li kauerte sich neben ihn. Chenxi setzte sich auf und betastete mit den Fingerspitzen seinen Hinterkopf, fühlte klebriges Blut. Der Mann an der Tür starrte zu ihm hinunter.
    Â»Jetzt komm«, drängte Lao Li. »Machen wir, dass wir wegkommen!«
    Eine Sekunde lang überlegte Chenxi, ob er sich wehren sollte. Noch mehr Blut würde fließen, aber der Gedanke, die blütenweißen Hemden und die makellosen Anzüge zu verschmutzen, war sehr verlockend. Doch neben ihm hockte Lao Li und beschwor ihn, nachzugeben.
    Chenxi stand auf und spuckte aus. »Euren beschissenen ausländischen Wein will ich sowieso nicht trinken.«

Kapitel 4
    Anna erwachte zum Klang von Musik. Laut und schrill, schmachtender Jazz. Und dazu zählte eine hohe Stimme auf Chinesisch Zahlen ab, immer wieder dieselben. Anna kannte diesen Takt. Eins, zwei, drei … eins, zwei, drei. Ein Walzer?
    Benommen setzte sie sich auf. Ihre Umgebung und die fremdartigen Geräusche setzten sich in ihrem Kopf zusammen wie die Teilchen eines Puzzles. Im Nebenzimmer schnarchte ihr Vater laut. Das letzte Teilchen fügte sich ein. Dies war ihr zweiter Tag in Shanghai.
    Anna trat die Baumwolldecke von ihrem verschwitzten Leib und rutschte über das Bett bis zu dem Fenster. Vom dreizehnten Stock aus hatte sie einen guten Blick über den Fuxing-Park. Direkt unter ihr drehte sich eine Gruppe Tänzer im Kreis. Es waren etwa zwanzig, zumeist Frauen, die mit Frauen tanzten, während ein Lehrer etwas abseits stand und mit dem Megafon den Takt angab. Anna kicherte. Ein Walzer um sechs Uhr morgens! Sie musste das alles in ihr Tagebuch schreiben, ehe ihr der Anblick zur Gewohnheit wurde.
    Aus dem Nachttisch neben ihrem Bett zog Anna das Tagebuch hervor, das ihr ihre Mutter ein paar Tage vor ihrer Abreise geschenkt hatte. Vielleicht hatte sie geahnt, dass sie nicht allzu häufig von ihrer Tochter hören würde, wenn Anna erst einmal in Shanghai war, und das Tagebuch war eine Möglichkeit, ihr trotzdem nahe zu sein. Anna war froh, ein paar Tage lang der Umklammerung ihrer Mutter entkommen zu sein. Jetzt, wo ihre Mutter zu Hause keinen Ehemann mehr hatte, der sie stützen konnte, überkam Anna manchmal das Gefühl, in eine Rolle gedrängt zu werden, die sie nicht einnehmen wollte. Ihre Mutter hatte sie in letzter Zeit ziemlich mit Beschlag belegt. Soll sich jetzt ruhig mal eine meiner Schwestern mit ihren Launen herumschlagen, dachte Anna. Ich mach jetzt Pause. Auf ins Abenteuer!
    Sie klappte das kleine Buch auf und strich die erste Seite glatt.
    4. April 1989
    Endlich bin ich in Shanghai! Ich schaue aus dem Fenster meines Zimmers in Dads Apartment, und der Blick ist atemberaubend. Ich kann über den ganzen Fuxing-Park sehen. Es ist erst sechs Uhr morgens, aber trotzdem ist schon ziemlich viel los – es ist wie eine Privatvorstellung, ganz für mich allein. Unter mir sind Leute, die Walzer tanzen, und rechts davon umarmt ein einzelner alter Mann einen Baum. Hinter ihm steht ein anderer Mann auf einem Fleck und schüttelt sich. Auf der anderen Seite des Weges, der von Pfingstrosen gesäumt wird, gehen gerade die Tai-Chi-Übungen los. Ich schaue zu, wie die Glieder der Menschen langsam und beherrscht durch die Luft gleiten.
    Ich könnte stundenlang an diesem Fenster sitzen, tage-, wochen-, ja monatelang. Der Park ist wie die Gemälde dieser niederländischen Meister, auf denen man immer wieder etwas Neues entdecken kann. Aber unglücklicherweise bin ich nicht monatelang in Shanghai, sondern nur wenige Wochen. Anfangs dachte ich, dass mir hier mit Dad langweilig werden würde, aber jetzt stehen die Dinge ganz anders. Obwohl ich erst einen Tag hier bin, hatte ich schon eine Verabredung (na ja, so was Ähnliches) mit dem schönsten Mann, den meine Augen je erblickt haben. Und deshalb muss ich mich jetzt beeilen, weil er mich in einer guten Stunde abholen wird.
    Was soll ich anziehen? Ich wünschte, es wäre nicht so heiß; ich habe völlig falsche Klamotten mitgebracht, und ich kann mir nicht
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