Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shanghai Love Story

Shanghai Love Story

Titel: Shanghai Love Story
Autoren: Sally Rippin
Vom Netzwerk:
unzählige Reihen mit Holzbänken, die bis auf den letzten Platz besetzt waren; die Leute kauerten sich in Ecken, und ein Mann lag schlafend auf dem Boden. Es sah eher aus wie ein Warteraum in einem Bahnhof als in einem Krankenhaus.
    Eine Frau räusperte sich und spuckte aus, eine andere schrie ein unruhiges Kind an. Ein dösender Mann, der seine Füße auf einen Platz gelegt hatte, murmelte unwillig und zog die Beine zurück, damit Anna und Laurent sich setzen konnten. Die Frau, die vor ihm saß, ermahnte ihn leise, höflich zu den ausländischen Gästen zu sein. Er schnaubte und machte sich auf die Suche nach einem anderen Sitzplatz. Die Frau nahm die Gelegenheit beim Schopf und setzte sich mit einem strahlenden Lächeln neben Anna.
    Â»Hallo!«, sagte sie zu Anna. »Sprechen Sie Englisch?«
    Â»Nein«, erwiderte Laurent in Chinesisch, weil er keine Lust hatte, mit Fragen bombardiert zu werden.
    Die Frau schaute ihn ungläubig an. »Woher kommen Sie?«
    Â»Aus Albanien«, fuhr Laurent sie an.
    Albanien hielt er für das einzige Land, in dem die Dinge noch schlimmer standen als in China. Außerdem vermutete Laurent, dass die wenigsten Leute etwas über Albanien wussten.
    Â»Oh«, sagte die Frau, lächelte und nickte. »Ihr Chinesisch ist sehr gut.«
    Sie fuhr fort zu lächeln und zu nicken, aber als sie merkte, dass Laurent sie nicht weiter beachtete, wandte sie sich um und verwickelte ihren Nachbarn in ein Gespräch.
    Â»Er spricht sehr gut Chinesisch. Sie kommen aus Albanien.«
    Die beiden Frauen verfielen in den Dialekt der Shanghailesen, sprachen über das traurige Schicksal Albaniens und warfen den Ausländern hin und wieder mitfühlende Blicke zu.
    Anna wurde wieder übel, und sie dachte an die drei Blutflecken, die sie gestern Morgen in ihrer Unterhose entdeckt hatte. Das konnte man wohl kaum eine Monatsblutung nennen, aber vielleicht musste sie gar keine Entscheidung fällen. Konnte sie das überhaupt, ohne Chenxi um seine Meinung zu fragen? Sie musste ihn finden. Diese Sache war zu wichtig; sie konnte sich nicht länger um Lao Lis Warnung kümmern. Lao Li musste ihr verraten, wo Chenxi war. Sie musste ihn sehen.
    An der Wand entdeckte sie jetzt Blutflecken. Nicht karminrot wie die in Annas Unterhose, sondern rostfarben und verschmiert. Anna musste an eine Ausstellung in Australien denken, wo der Künstler eine riesige Leinwand mit Schweineblut bemalt hatte, und neben dem Gemälde lief ein Video, das die Schlachtung des Tieres zeigte. Es war ziemlich eklig, aber in der Aufzeichnung versicherte der Künstler über das jämmerliche Quieken des Tiers hinweg, dass es sich um Kunst handelte. Sinnlich. Eine religiöse Erfahrung. Das Publikum um sie herum war angewidert und empört gewesen. Wusste der Künstler, dass alle Wände der Verbotenen Stadt mit Schweineblut bemalt waren? Sie lächelte. Die chinesische Regierung wäre vermutlich durch die Opferung eines Schweins kaum aus der Ruhe zu bringen, wohl aber durch Chenxis gewagten Haarschnitt.
    An nassen Tagen, wenn sie über den Markt in der Nähe der Kunstakademie geschlendert war, waren die Straßen vor Blut fast übergequollen. Und in dem muslimischen Restaurant, wo Chenxi mit ihr Hammelfleischbällchen gegessen hatte, hatte ihr aus der Ecke ein Schafskopf entgegengestarrt, das Blut aus dem offenen Hals tropfend. Sie dachte an die köstliche Suppe, die sie geschlürft hatte und die aus leberfarbenen Klumpen aus geronnenem Blut gemacht wurde, an die grinsenden Fleischer mit den blutbefleckten Händen, die die Fliegen von den Fleischbrocken verscheuchten, die in der Sonne trockneten.
    Sie hatte sich in so kurzer Zeit an den Anblick von Blut gewöhnt. In China war es ein Teil des Lebens, ein Teil, den man in der klinischen, sauber verpackten Supermarkt-Landschaft Australiens nicht zu sehen bekam. Und doch konnten diese drei Blutstropfen in ihrer Unterhose mehr als alles Blut, das sie je gesehen hatte, über Leben und Tod entscheiden.
    Anna wünschte sich sehnlich, Chenxi jetzt neben sich zu haben. Was würde er denken? Würde er das Kind behalten wollen? Sie hatte keine Ahnung. Sie kannte ihn ja kaum.

Kapitel 25
    Nach drei oder vier Minuten kam eine Schwester und rief Anna auf. Anna gab ihr den Plastikchip. Alle im Warteraum wussten, dass Anna – als Ausländerin – als Erste an die Reihe kam. Niemand beschwerte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher