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Serafinas später Sieg

Serafinas später Sieg

Titel: Serafinas später Sieg
Autoren: Judith Lennox
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wurde. Sie hatte eine so enge Beziehung zu ihm gehabt, wie war es möglich, daß sie es nicht gespürt hatte, als er gestorben war?
    Kara Ah versuchte nicht, sie mit irgendwelchen fadenscheinigen Worten über die Freuden des Himmels zu trösten – sei es des islamischen oder des christlichen. Stattdessen strich er ihr zart über den Kopf und ließ sie allein mit dem Grabstein, den bebenden Ölbaumblättern und dem sternenübersäten Himmel.
    Nach diesem Abend begann sie, sich darauf einzustellen, daß dieses neue Leben, das sie für vorübergehend gehalten hatte, ein Dauerzustand würde. Bei Tag war sie Küchensklavin, abends Kara Alis Sekretärin. Sie hatte Glück im Unglück. Weder wurde sie ausgepeitscht, noch ließ man sie hungern. Einige Sklavinnen wußten schlimme Geschichten von anderen Herren zu berichten, bei denen es wegen jeder Kleinigkeit Peitschenschläge und Stockhiebe auf die Fußsohlen gab. Sie schätzte sich fast glücklich. Sie war nicht wie ihr Vater im Bagno am Fieber gestorben, nicht wie wahrscheinlich Mathilde in einen Harem gesteckt worden und auch nicht wie der Rest der Guardi-Mannschaft dazu verdammt, Korsarenschiffe über die Meere zu rudern. Sie hatte zu essen und zu trinken und ein Bett.
    Nur manchmal, frühmorgens, bevor der Haushalt zum Leben erwachte, wurde Serafina von Verzweiflung ergriffen. Die meiste Zeit empfand sie gar nichts – sie existierte. Sie bemühte sich, alles richtig zu machen, denn wenn sie es nicht tat, wurde dies mit Ohrfeigen seitens der Köchin geahndet – und ab und zu stahl sie irgendwelche Leckerbissen, weil die anderen das auch taten: Es war für einen Sklaven ganz natürlich zu stehlen. Mit ihrem Herrn sprach sie französisch, in der Küche Lingua franca – und bald waren ihr beide Sprachen gleichermaßen geläufig.
    Doch in den frühen Morgenstunden, wenn es noch dunkel war und das Haus noch still, weinte sie – um ihren Vater, um ihr Zuhause, um alle, die sie verloren hatte, und alles, was sie vermißte. Sie weinte leise – sie hatte gelernt, sich unauffällig zu benehmen, denn es war nicht ratsam, Aufmerksamkeit zu erregen –, und wenn sie ihr Kissen mit Tränen getränkt hatte, schlief sie irgendwann wieder ein.
    Kara Ali alterte schnell. Er konnte mittlerweile auch größere Buchstaben nicht mehr lesen und auch nicht mehr so schwungvoll vom Pferd auf- und absteigen, wie er es als erfahrener Reiter beherrscht hatte. Er arbeitete immer noch als Arzt, reiste nach wie vor durch das Land, doch nicht mehr so häufig und auch nicht mehr so weit. Stattdessen konzentrierte er sich auf Alchemie und Astrologie, wozu er früher kaum gekommen war.
    Serafina machte sich zusehends weniger Gedanken über ihre Zukunft. Die Tage schleppten sich gleichförmig dahin, nur unterbrochen von dem kurzen Nervenkitzel eines kleinen Diebstahls von Süßigkeiten oder eines heimlichen Schlucks Scherbett an einem besonders heißen Tag, dem gelegentlichen Besuch eines Märchenerzählers und den allabendlichen Stunden im Arbeitszimmer ihres Herrn. Alles in allem führte sie ein angenehmes Leben – doch ihr Herz war leer: Sie hatte das Objekt ihrer kindlichen Liebe verloren.
    Sie hätte immer so weitermachen können – in einem Zustand, in dem es weder Glück noch Kummer gab, weder Zorn noch Freude, schließlich war es viel einfacher, nichts zu empfinden. Doch an einem Tag im folgenden Sommer, als die Sonne wie eine Messingscheibe am blassen Himmel hing und die Luft so dick war, daß man glaubte, sie schneiden zu können, stahl Serafina eine Schale mit Mandeln.
    Es waren wohlschmeckende, dicke Mandeln von der gerade beendeten Mahlzeit übriggeblieben. Serafina versteckte sich unter einem Busch und stellte die Schale auf ihren Schoß. Es war eine herrliche Schale – leuchtend blau wie das Mittelmeer. Sie hatte nicht gestohlen, weil sie hungrig war – die Pracht des Gefäßes hatte sie dazu veranlaßt.
    Die Mandeln waren köstlich knusprig, mit Honig überzogen. An jenem Tag war die Luft voller Sand. Er drang unter Serafinas Lider und knirschte in ihrem Mund, während sie kaute. Sie hatte ihr staubiges dunkles Gewand so um sich gewickelt, daß sie sich gegen die dunklen Blätter des Busches nicht abhob. Als sie die Reiter hörte, zog sie die Dschellaba weiter ins Gesicht, verbarg die Schale in den Falten ihres Kleides und kauerte sich noch mehr zusammen.
    Einer der Reiter – er trug das rote Gewand und den hohen Hut der türkischen Soldaten – verlangte, den Herrn des Hauses zu
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