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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Autoren: Harald Welzer
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sukzessive Verkleinerung des noch bestehenden Handlungsspielraums geschehen und damit Freiheit, Demokratie, Recht und Wohlstand über die Klinge springen lässt. Oder ob man seinen Handlungsspielraum nutzt, um Freiheit zu erhalten, also auch die Freiheit, die Dinge besser zu machen. Warum bevorzugen Sie die erste Variante?

Sorry, Umwelt!
    Meine Kollege Peter Seele erzählte mir vor einigen Jahren die folgende Geschichte von einer Strandparty in den Düsseldorfer Rheinauen. Familien grillen, irgendwann machen ausgelassene Kinder ein Feuer. Schnell geht der Brennstoff aus, man macht sich auf die Suche. Nach kurzer Zeit schleppt ein etwa Zehnjähriger eine große, verdorrte Tanne an, vielleicht ein weggeworfener Weihnachtsbaum. »Der brennt bestimmt super!« Er wirft ihn komplett ins Feuer, kurze Zeit später lodert, qualmt und stinkt es über den Strand. Zufrieden blickt der Junge in die Flammen. Und sagt die denkwürdigen Worte: »Sorry, Umwelt, das musste jetzt mal sein!«
    Wovon erzählt diese kleine Geschichte? Davon, dass Umweltbewusstsein und Handeln nur entfernt miteinander zu tun haben können und davon, dass das Unbehagen, das mitunter entsteht, wenn man Dinge tut, die eigentlich falsch sind, ausgesprochen leicht zu bewältigen ist. Menschen können zwischen ihr Wissen und ihr Handeln Abgründe von der Dimension des Marianengrabens legen und haben nicht das geringste Problem damit, die eklatantesten Widersprüche mühelos zu integrieren und im Alltag zu leben. Schon der Zehnjährige weiß, dass Wissen und Handeln nicht zwingend in Deckung gebracht werden müssen. Das Menschenbild, das voraussetzt, dass Menschen nach Widerspruchsfreiheit streben, hat sich aus Moralphilosophie und Theologie in unsere Vorstellungswelt eingeschlichen, ist aber völlig unzutreffend. Menschen verhalten sich in unterschiedlichen Situationen deshalb unterschiedlich, weil sie – im Beruf, beim Sport, in der Familie, unter Freunden – jeweils differierende Anforderungen zu erfüllen haben und mit beständig wechselnden Rollenerwartungen konfrontiert sind.
    Denn mit der funktionalen Differenzierung von Gesellschaften, die arbeitsteilig organisiert sind, ist ein höchst flexibler Subjekttypus entstanden, der in der Lage ist, wechselnde und oft sogar höchst widersprüchliche Rollenanforderungen in Familie, Beruf, Verein, Freundschaftsbeziehungen usw. geschmeidig zu bewältigen. Der Soziologe Erving Goffman hat sein ganzes Werk darauf verwandt, zu zeigen, dass Menschen in modernen Gesellschaften je nach Situation höchst unterschiedlich wahrnehmen, deuten und handeln und dass sie keinerlei Problem damit haben, sich in der einen Rolle von Normen zu distanzieren, denen sie in einer anderen Rolle folgen (»Fragen Sie mich als Politiker oder als Mensch?«). Und er hat die soziale Choreographie dechiffriert, die die Beziehungen, Rollenspiele und Inszenierungen der Menschen regelt. Es ist, außer im pathologischen Grenzfall, Unsinn, das Handeln von Menschen auf Motive zurückzuführen, die situationsunabhängig wirksam würden. Und moderne Gesellschaften können umgekehrt mit Normpathologen nichts anfangen. Jemand, der situationsunabhängig wechselnde Anforderungen mit der immer gleichen Antwort versieht, landet in modernen Gesellschaften in der Psychiatrie.
    Der flexible Mensch ist aber keine pathologische Spielart des eigentlich starren, sondern genau jener, den alle Sozialisationsinstanzen und Bildungseinrichtungen in modernen Gesellschaften formen: weil sie genau ihn brauchen, um funktionieren zu können. Moralische Überzeugungen sind nicht handlungsleitend, sondern geben uns eine Richtschnur dafür, welche Begründung dafür geeignet ist, eine falsche Handlung mit einem richtigen Bewusstsein in Deckung zu bringen. Genauso war das, was der Junge in der kleine Geschichte vorführte, nicht mehr als ein besonders auffälliges Beispiel für einen ohne weiteres ausgehaltenen Widerspruch – bei ganz offenkundigem Bewusstsein darüber, dass er gerade eine ziemliche Sauerei angerichtet hatte. Tatsächlich lieferte paradoxerweise der Umstand, dass er sich darüber klar war, dass seine Handlung »eigentlich« falsch war, ein moralisches Gefühl: denn immerhin konnte er sich ein richtiges Bewusstsein beim falschen Handeln attestieren.
    Für den uferlosen Komplex solcher Deutungsweisen hat die Sozialpsychologie einen Begriff, nämlich den der Dissonanzreduktion. Er wurde von Leon Festinger aufgrund eines bemerkenswerten Geschehens geprägt. Vor
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