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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Autoren: Harald Welzer
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dessen, wer gerade als »gut« bzw. »schlecht« galt, als konform oder kriminell. Solche Willkür zerstört die Basis jeder Sozialität: Vertrauen. [10]   Beide Herrschaftssysteme bauten ihre soziale Macht auf die Destruktion autonomer, unkontrollierter Beziehungen zwischen den Menschen. Man zerstörte den bestehenden sozialen Zusammenhang, setzte die Teile anders wieder zusammen und verwandelte das soziale Beziehungsgefüge selbst in ein machtvolles Herrschaftsinstrument.
    Dasselbe Prinzip war im China der Kulturrevolution wirksam, im Kambodscha der Roten Khmer, übrigens auch in der Sozialutopie des Behaviorismus: Die ideale Einrichtung der Welt erfordert im ersten Schritt immer die Zerstörung eigensinniger Sozialverhältnisse. Genau dort setzen auch die literarischen Dystopien von George Orwell oder Aldous Huxley an, und womöglich sollte man seine Aufmerksamkeit genau auf solche Zerstörungsprozesse richten, wenn man um das Abdriften von Gesellschaften in antisoziale, gegenmenschliche Richtungen besorgt ist. Und wahrscheinlich ist man zu romantisch, wenn man davon ausgeht, so etwas geschehe immer in Kopie historischer Vorläufer. Es könnte vielmehr sein, dass der heutige Totalitarismus ausgerechnet im Gewand der Freiheit auftritt: in jedem Augenblick alles haben und sein zu können, was man haben und sein zu wollen glaubt. Es gibt nur ein einziges Regelsystem, das solche Freiheit begrenzt: der Markt. Denn im Unterschied zu »1984« ist heute ja keine überwachende Instanz mehr nötig, die die Wünsche und Regungen der Menschen kontrolliert und eingreift, wo sie gefährlich werden. Es bedarf keiner Gestapo und keiner Tscheka mehr; im Zeitalter von Google und facebook liefert ja jeder einzelne Insasse des Netzes die nötigen Daten über sich freimütig, ohne jeden Zwang. Was das in der Konsequenz heißt, mag einem klarwerden, wenn man sich einen Augenblick lang den Faschismus mit facebook vorstellt. Kein einziger Jude wäre versteckt worden, kein einziger Verfolgter entkommen.
    Wir haben es heute noch nicht mit der Zerstörung des sozialen Zusammenhangs zu tun, aber mit einem ungeheuren Potential dazu. Wenn diese Diagnose zutreffend ist, dann ist allerdings Widerstand nötig. Widerstand gegen die physische Zerstörung der künftigen Überlebensgrundlagen, gegen den Extraktivismus, Widerstand aber auch gegen die Okkupation des Sozialen. Widerstand gegen die freiwillige Hingabe der Freiheit. Widerstand gegen die Dummheit. Widerstand gegen die Verführbarkeit seiner selbst, leichthin zu sagen: »Ist ja egal, es kommt doch auf mich nicht an.«
    Nichts ist egal. Nur auf Sie kommt es an.

Wohnst Du noch, oder zerstörst Du schon?
    Stellen Sie sich vor: Ein älteres Ehepaar geht zu IKEA, bleibt lange vor dem Schrank »Bjursta« stehen, öffnet und schließt die Türen, zieht und schiebt die Schubladen, prüft das Holz, streicht über die Oberflächen, geht um das Stück herum, überlegt, sinniert. Schließlich sagt die Frau zu ihrem Mann: »Den nehmen wir. Der ist schön und solide, von dem wird unser Enkelchen noch etwas haben!«
    Wenn ich diese fiktive kleine Episode in Vorträgen erzähle, gibt das verlässlich einen Lacher. Warum? Weil heute die Vorstellung völlig absurd scheint, dass man ein Möbelstück vererben könnte, ja, dass man es in der Perspektive anschaffen könnte, es wäre nicht spätestens in fünf, sechs Jahren aus der Mode und würde ersetzt werden. Tatsächlich kauft man Möbel heute für den Sperrmüll, auf dem sie über kurz oder lang landen werden. Sie sind in Relation zu den verfügbaren Einkommen extrem billig, weshalb es nichts macht, sie wegzuschmeißen und à la mode zu ersetzen. Was IKEA und andere Billigmöbelhäuser geschafft haben, ist die Verwandlung von langlebigen in kurzlebige Konsumgüter. Während Durchschnittsfamilien früher lange sparten, um sich einen neuen Schrank leisten zu können, und sie ihn sich dann anfertigen ließen oder im Möbelhaus kauften, handelt es sich heute um Mitnahme- und Wegwerfartikel. Ökologisch betrachtet sind diese kurzlebigen Pseudomöbel nicht nur deswegen eine Katastrophe, weil sie nach kurzem Gebrauch entsorgt werden: In ihre Produktion geht auch wesentlich mehr Energie-, Material- und Transportaufwand ein als in jeden getischlerten Schrank. Die Ikeaisierung der Welt sieht in Zahlen so aus, dass der Konsum an Möbeln in den westlichen Gesellschaften alle zehn Jahre um 150 Prozent wächst. [11]   Und IKEA ist inzwischen überall. Mit seinem
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