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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Autoren: Harald Welzer
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durchzusetzen. So war es den meisten Menschen, die nach Weltwirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg mit Mangel vertraut waren, eine Orientierung, sparsam zu wirtschaften; wenn man etwas kaufen wollte, so musste man entsprechend lange sparen, bis das Geld dafür zusammen war. In der Volkswirtschaft begann sich in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise eine andere Kultur zu etablieren: Mit Krediten konnte man staatliche Investitionsprogramme finanzieren, die Arbeitslosigkeit niedrig halten und das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Das war die eigentliche Geburtsstunde der Popularisierung von Kredit- und Wachstumswirtschaft. Der Historiker John R. McNeill fasst das so zusammen: Amerikanische Volkswirte »infiltrierten die Korridore der Macht und die ehrwürdigen Säle der Akademien, traten zu Hause und im Ausland als Experten auf, bildeten Scharen von Bekehrten auf der ganzen Welt aus, verfassten Kolumnen für populäre Zeitschriften – keine Gelegenheit wurde ausgelassen, die frohe Botschaft der Wachstumsideologie zu verkünden. Ihre Priesterschaft tolerierte viele Sekten, solange man sich über die grundlegenden Fragen einig war. Ihre Ideen passten dermaßen gut zu den sozialen und politischen Vorstellungen der Zeit, dass sie in vielen Staaten mühelos den Status der Orthodoxie erlangten.« [27]   Die Einführung von Konsumentenkrediten, zunächst in den 1920er Jahren in den USA, in den 1950er Jahren dann auch in den westeuropäischen Ländern, kehrte das traditinelle Prinzip erfolgreich um: Nun konnte man, wann immer einen das entsprechende Bedürfnis befiel, sofort kaufen und in den Genuss des ersehnten Gegenstands kommen und hinterher dafür bezahlen.
    Psychologisch bedeutet dieses Prinzip der »Sofortness« eine drastische Verkürzung der Zeitspanne zwischen Bedürfnis und Befriedigung. Lag zuvor der Befriedigung noch eine erhebliche Zeit des Aufschubs voraus, bevor man sich das jeweilige Objekt der Begierde auch »leisten konnte«, machte nun der sofortige Kauf keinerlei Mühe mehr: Die Kosten für die Bedürfnisbefriedigung rückten an die zweite Stelle. Dass dies der entscheidende Schritt für die Entfesselung des Massenkonsums und vor allem für die beständige Kreation neuer Bedürfnisse war, erschließt sich, wenn man das folgende Konsumleitbild von Victor Lebov, eines amerikanischen Marketingexperten aus den 1950er Jahren, liest: »unsere ungeheuer produktive Wirtschaft verlangt, dass wir den Konsum zu unserem Lebensstil und den Kauf und die Nutzung von Gütern zu einem Ritual machen, dass wir unsere spirituelle Befriedigung und die Erfüllung unseres Selbst im Konsum suchen.« [28]  
    Das Volumen von Konsumentenkrediten wächst seither unaufhörlich: Allein im vergangenen Jahrzehnt in Amerika um ein Drittel (von etwa 1,2 im Jahr 2000 auf 1,8 Billionen Euro 2010), in Deutschland um vergleichsweise moderate fünf Prozent (216 im Jahr 1999 auf 227 Milliarden Euro in 2009). [29]  
    Und wie sehr die Lizenz zum Kaufen an die Stelle von Sinnerfüllungen trat, die nicht marktförmig waren, erschließt sich spätestens anhand der Aufforderung, die Robert Giuliani, Bürgermeister von New York, nach dem Anschlag auf das World Trade Center an die Bürger seiner Stadt richtete: »Show you’re not afraid! Go shopping!« Es ist nicht ohne Ironie, dass der Antipode dieses Kulturmodells, Osama bin Laden, den Erfolg seiner Form des Terrors ebenfalls nach kaufmännischen Gesichtspunkten bemaß: In einer Videobotschaft brüstete er sich damit, jeder von Al-Qaida investierte Dollar habe »mit Allahs Erlaubnis eine Million Dollar vernichtet und dazu noch eine riesige Zahl von Arbeitsplätzen.« [30]   Vielleicht zeigt so etwas am deutlichsten an, in welchem Maß sich kapitalistische Waren- und Denkformen über die Welt verbreitet und sich an die Stelle früherer Formen von Sinngebung gesetzt haben. Dieses Kulturmodell hat sich von allen nationalen und religiösen Sinnwelten emanzipiert und definiert Sinn ausschließlich nach Konsummöglichkeiten.
    Diejenigen, die einstweilen diesem Sinnangebot noch nicht nachkommen können, die Demonstranten von Bahrain etwa oder die »unterste Milliarde«, an der bislang alle Wohlstandsmehrungen noch vorbeigegangen sind, sollen mittelfristig natürlich auch dabei sein. Deshalb gibt man den Armen inzwischen Mikrokredite, damit sie ebenfalls Marktteilnehmer werden können. Damit man ihnen etwas verkaufen kann. Exakt aus diesem Grund befinden wir uns im postideologischen Zeitalter: Bis
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