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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Autoren: Harald Welzer
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etwa einem halben Jahrhundert veräußerten die Anhänger eines kultischen Glaubens in Wisconsin all ihre Habe, weil ihrer Anführerin prophezeit worden war, dass der Weltuntergang in Form einer gewaltigen Überschwemmung unmittelbar bevorstehe. Anschließend versammelten sich die Sektenmitglieder auf dem höchsten Berg der Umgebung, um gemeinsam die Apokalypse zu erwarten und als Auserwählte von einem UFO gerettet zu werden. Der Weltuntergang trat aber bekanntlich nicht ein, und die Gläubigen standen nun ratlos auf dem Berg.
    Leon Festinger interessierte sich dafür, wie sie mit dieser herben Enttäuschung ihrer Erwartung zurechtkommen würden, und machte eine überraschende Entdeckung. Statt etwa frustriert zu sein, an ihrem Glauben zu zweifeln oder gar ihren grotesken Irrtum einzusehen, hatten die vermeintlichen Auserwählten umgehend eine neue Theorie entwickelt: Zweifellos handele es sich hier um eine Prüfung der Festigkeit ihres Glaubens. Damit war der Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Überzeugung beseitigt, und Leon Festinger hatte das Phänomen der kognitiven Dissonanz entdeckt. Wenn Menschen eine Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und der Realität erleben, die sich praktisch nicht beseitigen lässt, erzeugt das ein tiefes Unbehagen und damit das dringende Bedürfnis, die Dissonanz zum Verschwinden zu bringen oder sie wenigstens zu reduzieren. Daher wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit der eigenen Überzeugung angepasst, weshalb Raucher Lungenkrebsstatistiken für überbewertet halten und Anlieger von Kernkraftwerken das Strahlungs- und Unfallrisiko regelmäßig niedriger einschätzen als Menschen, die weit entfernt von Atommeilern leben.
    Auch ein Phänomen wie der Klimawandel ist geeignet, erhebliche kognitive Dissonanz auszulösen. Die Bedrohung wird mit jedem Jahr dramatischer – das arktische Eis schmilzt schneller, als die pessimistischsten Modelle der Klimaforscher vorhergesagt hatten, und zugleich wachsen die Emissionsmengen weltweit in unverminderter Geschwindigkeit an. Das Bedrohungsgefühl wird nicht kleiner dadurch, dass die Klimaerwärmung auch deswegen der unmittelbaren Kontrolle entzogen ist, weil die augenblickliche Situation ihre Ursache in den Emissionen des Wirtschaftswunders und der Folgejahre hat. Alles, was man jetzt tun würde, hätte Auswirkungen wiederum erst in ein paar Jahrzehnten. Die Ursache-und-Wirkungs-Kette ist auseinandergerissen, weil das Klima träge ist. Was kann man also tun?
    Zum Beispiel sich sagen, dass jede eigene Anstrengung ohnehin von den Chinesen, den Indern, den Russen und den Brasilianern unterminiert wird: Alle sind sie um die Vermehrung ihres Wohlstands bemüht, um den Preis, dass alle eigenen Anstrengungen, die Welt doch noch zu retten, sich im Angesicht der jährlichen Emissionsstatistik von vornherein in Luft auflösen. Oder von »den Politikern« fordern, dass sie mal endlich ein transnationales Klimaabkommen beschließen sollen. Vorher könne man ja sowieso nichts machen. Oder, auch sehr beliebt, auf die »Menschheitsgeschichte« weisen und aufgeklärt mitteilen, dass »der Mensch« ja erst lernt, wenn die Katastrophe schon geschehen ist. Wahlweise: dass »dem Menschen« am Ende ja immer etwas eingefallen sei, was die Katastrophe abgewendet habe.
    Was sind solche Sätze? Mentale Anpassungen an sich verändernde Umweltbedingungen. Vor einiger Zeit wurde eine Studie darüber veröffentlicht, wie Fischer am Golf von Kalifornien den Rückgang der Fischbestände einschätzen. Trotz erheblicher objektiver Rückgänge in den Fischpopulationen und Überfischung in den küstennahen Regionen zeigten sich die Fischer desto weniger besorgt, je jünger sie waren. [17]   Sie kannten im Unterschied zu den älteren Kollegen viele Vorkommen und Arten gar nicht mehr, die früher in der Nähe der Küste gefischt worden waren. Eine ähnliche Untersuchung in China hat gezeigt, dass jüngere Fischer schon Fischarten, die noch vor wenigen Jahren zum Bestand gehörten, nicht mehr als typisch für ihre Region nennen konnten. [18]   Umfragen in Indien belegen, dass für die Jüngeren Fleischkonsum das natürliche und darum erstrebenswerte Ernährungsverhalten darstellt, während die Älteren genau das für neu und unnatürlich halten. Und in Deutschland hält man sich, wie gesagt, für »grün«, obwohl man immer mehr Rohstoffe konsumiert.
    Solche shifting baselines , die Veränderung der eigenen Wahrnehmung parallel zu sich verändernden Situationen in der
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