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Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)

Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)

Titel: Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Autoren: Raphael M. Bonelli
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innerhalb der Psychotherapeuten hat diese kopernikanische Wende noch nicht vollzogen.
    Dass Schuldbewusstsein normal ist und dessen Fehlen abnorm, lehrt uns auch die Geschichte. So hat zum Beispiel Teresa von Ávila – eine Ausgeburt an Lebensfreude mit gesundem Selbstvertrauen und psychischer Normalität im 16. Jahrhundert – immer betont, wie sehr sie doch Sünderin sei und der göttlichen Vergebung bedürfe. In der ausführlichen Abhandlung der Theologin Jutta Burggraf findet sich ein Kapitel »Sündenbewusstsein«. Dort lesen wir: »Trotz ihrer außergewöhnlichen Begabung ist Teresa nicht hochmütig in ihrem Auftreten, auch nicht in ihrem geheimen Denken und Fühlen. Sie ist zutiefst davon überzeugt, dass sie von sich aus nichts Gutes zustande bringt. Oft weist sie darauf hin, wie ›böse‹ ihr früheres Leben war, bei jeder Gelegenheit nennt sie sich eine ›verdorbene Frau‹. … In einem ihrer Briefe gibt sie den Schlüssel zur richtigen Interpretation ihrer Sündenbekenntnisse: Sie möchte nicht einem gewissen ›Schein der Heiligkeit‹ ausgesetzt sein, sie möchte nicht beständig fürchten müssen, ›dass eines Tages dieses Luftschloss über mir zusammenstürzt‹.« Zweifelsfrei hat sich die Heilige die Latte sehr hoch gelegt, und wahrscheinlich kann man diese kritische Selbsteinschätzung nur aus ihrer innigen Liebesbeziehung mit Gott verstehen. Solche Texte sind aber von Adolf Hitler, Josef Stalin, Nero, Ivan IV. (dem Schrecklichen), Maximilien de Robespierre oder Nicolae Ceaușescu nicht erhalten – die hatten ja wahrscheinlich weniger Fehler als die spanische Nonne … Teresa war sich ihrer Schuld bewusst, auch wenn diese vermutlich im Vergleich zu uns Durchschnittsmenschen eher klein ausgefallen wäre. Die im Anschluss aufgezählten Politiker waren sich ihrer Schuld nicht bewusst. Dadurch konnte diese ungebremst anwachsen.
    Schuldbewusstsein ist ein kreatives Potenzial: Es für denkbar und möglich zu halten, etwas falsch gemacht zu haben, öffnet neue Handlungshorizonte. Fehlendes Schuldbewusstsein bedeutet nicht etwa das Fehlen von Schuld, sondern die Verdrängung der Schuld aus dem Bewusstsein, die jetzt im Unterbewussten ein Eigenleben führt. Verdrängte Schuld engt den Menschen ein und nimmt ihm Handlungsspielraum. Eine meiner Patientinnen hat einen neuerlichen Ehebruch ihres Mannes daran erkannt, dass er ihr gegenüber wieder einmal besonders aggressiv war. Das wäre die Abwehraggression, um seine eigene Schändlichkeit zu überspielen.
    Ein »schlechtes Gewissen« ist die Erinnerung an eine eigene Handlung, die im Nachhinein als unrichtig, schädlich, schlecht, ja böse beurteilt wird. Auch das ist keine schwere Krankheit – und man kann es oft durch eine Entschuldigung aus der Welt schaffen. Ein Killerargument im menschlichen Zusammenleben lautet: »Du machst mir jetzt ein schlechtes Gewissen.« Das ist ein Paradoxon: Als ob ein schlechtes Gewissen schon ein klarer Hinweis auf Unschuld wäre – und auf einen aggressiven Übergriff des Partners. Wir laufen damit nur Gefahr, durch halbgebildete Küchenpsychologie und Stammtischpädagogik uns gegenseitig das Leben zu erschweren: Durch eine zunehmende Psychologisierung des Alltags werden unter anderem psychoanalytische Hypothesen in banalisierter Form in Umlauf gesetzt. Tatsächlich macht ein gesundes Schuldbewusstsein überhaupt erst beziehungsfähig. Denn die Freiheit zum Verzeihen ist denen leichter zugänglich, die auch an sich selbst Fehler sehen. Die Perfekten und Fehlerlosen tun sich außerordentlich schwer mit dem Verzeihungsprozess, weil sie gar nicht nachvollziehen können, dass jemand Fehler haben kann, wo sie doch selbst auch keine haben.
    Das Aushängeschild der Sozialpsychologen, Philip Zimbardo von der Stanford University, ist durch das Stanford Prison Experiment und durch seine Untersuchungen der Misshandlungen in Abu Ghraib bekannt geworden. In seinem Buch »Der Luzifer-Effekt« aus dem Jahr 2007 zeigt er, »wie wir alle für die Versuchung der finsteren Seite anfällig sind«. (Schon wieder das Wort »Versuchung«!) Er beschreibt darin, wie anständige Männer und Frauen durch situative Kräfte und gruppendynamische Prozesse »zu Ungeheuern« werden. Das historische Stanford Prison Experiment, ein Meilenstein der psychologischen Forschung, bestand darin, dass im August 1971 eine Gruppe von freiwilligen Studenten randomisiert (d.h. zufällig) in »Gefängniswärter« und »Häftlinge« aufgeteilt wurde. Sie
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