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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
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Hausmeister war, aber anscheinend auch mit einigen ihrer Väter aufs College gegangen war. Wie es dazu kam und warum er Hausmeister geworden war, ein geradezu untauglicher, wusste niemand so recht. Einer von Irenes Brüdern hatte den Vater dazu befragt und als Antwort bekommen: »Das ist etwas, das dich nichts angeht«, und den Ratschlag, achtzugeben, nicht so zu enden wie ›der arme Bob‹.
    Nein, Irene hatte nicht an Clare Kendry gedacht. Ihr eigenes Leben war gedrängt voll. Und ebenso, vermutete sie, das Leben anderer. Sie rechtfertigte ihre eigene Vergesslichkeit und die der anderen. »Du weißt ja, wie das ist. Jeder ist so beschäftigt. Leute ziehen weg, entschwinden dem Blick, man redet vielleicht noch ein Weilchen über sie, hat Fragen; dann geraten sie allmählich in Vergessenheit.«
    »Ja, das ist natürlich«, stimmte Clare zu. Und was hatten denn die anderen über sie gesagt in besagtem Weilchen, bevor man sie gänzlich vergessen hatte?
    Irene schaute weg. Sie fühlte, wie verräterische Röte ihr in die Wangen stieg. »Du kannst von mir nicht erwarten«, wich sie aus, »dass ich mich an solche Kleinigkeiten erinnere nach zwölf Jahren mit Hochzeiten, Geburten, Todesfällen und dem Krieg.«
    Es folgte der Triller, aus dem Clare Kendrys Lachen bestand, leicht und klar und der pure Spott.
    »Ach ’Rene!«, rief sie aus. »Natürlich erinnerst du dich! Aber ich erlasse es dir, mir davon zu berichten, ich weiß es eh schon, so als wäre ich dabei gewesen und hätte jedes unfreundliche Wort gehört. Ja, ich weiß es doch, ich weiß es. Frank Danton hat mich an einem Abend im Shelby gesehen. Sag mir nicht, dass er es nicht herumerzählt und noch ausgeschmückt hat. Andere haben mich wohl auch noch gesehen. Kann sein. Aber ein Mal habe ich Margaret Hammer beim Einkaufen im Marshall Field’s getroffen. Ich hätte sie angesprochen, wollte es gerade tun, aber sie hat mich wie Luft behandelt. Meine liebe ’Rene, ich versichere dir, von der Art und Weise, wie sie durch mich hindurchgeschaut hat, wurde sogar ich unsicher, ob ich tatsächlich dort in natura bin oder nicht. Ich erinnere mich deutlich, überdeutlich. Es war genau das, was mich schließlich dazu gebracht hat, dich nicht aufzusuchen und ein letztes Mal zu sehen, bevor ich für längere Zeit wegging. Irgendwie hatte ich das Gefühl, das könnte ich nicht ertragen, wie gut ihr alle, die ganze Familie, immer zu dem armen verlassenen Kind, das ich war, gewesen seid. Wenn nämlich irgendeiner von euch, deine Mutter oder die Jungens oder – na ja, ich hatte einfach das Gefühl, ich würde es lieber nicht wissen, ob ihr ebenso denkt. Darum bin ich weggeblieben. Vermutlich dumm. Manchmal hat es mir leidgetan, dass ich nicht gekommen bin.«
    Irene fragte sich, ob es Tränen waren, die Clares Augen so strahlend machten.
    »Und jetzt, ’Rene, möchte ich alles über dich und die anderen erfahren, alles. Du bist doch verheiratet, nicht?«
    Irene nickte.
    »Ist ja klar«, meinte Clare mit vielsagendem Blick. »Erzähl mir davon.«
    Und so saßen sie über eine Stunde da, rauchten, tranken Tee und füllten redend die Lücke von zwölf Jahren aus. Das heißt, Irene redete. Sie erzählte Clare von ihrer Heirat und dem Umzug nach New York, von ihrem Mann und von ihren beiden Söhnen, die gerade in einem Sommercamp zum ersten Mal von den Eltern getrennt waren, vom Tod ihrer Mutter, von den Ehen ihrer beiden Brüder. Sie erzählte von den Hochzeiten, Geburten und Todesfällen in anderen Familien, die Clare gekannt hatte, und eröffnete ihr so neue Perspektiven auf das Leben alter Freunde und Bekannter.
    Clare nahm alles begierig auf, die Dinge, die sie so lange schon hatte wissen wollen und nicht in Erfahrung bringen konnte. Sie saß regungslos da, ihre leuchtenden Lippen leicht geöffnet, das Gesicht erhellt vom Strahlen ihrer glücklichen Augen. Hin und wieder stellte sie eine Frage, meist aber blieb sie stumm.
    Irgendwo draußen schlug eine Uhr. In die Gegenwart zurückgeholt, schaute Irene auf ihre Uhr und rief aus: »Oje, ich muss weg, Clare!«
    Im nächsten Augenblick wurde sie von Unbehagen gepackt. Es war ihr plötzlich aufgefallen, dass sie Clare über deren eigenes Leben nichts gefragt hatte und es auch Unwillen in ihr erregte, es zu tun. Wieso das so war, war ihr nur zu bewusst. Aber wäre es nicht, wenn man alles bedenkt, am freundlichsten, sich nicht zu erkundigen? Wenn die Dinge mit Clare so standen, wie sie – sie alle – vermutet hatten, wäre es da
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