Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
Vom Netzwerk:
Danach, an das hier. Sie hatte in jenem plötzlichen Moment des Handelns an nichts gedacht.
    Es war kalt. Ein eisiger Schauder lief ihr den Rücken hoch und über Nacken und Schultern.
    Im Zimmer nebenan ertönten Stimmen. Die von Dave Freeland und anderen, die ihr unbekannt waren.
    Sollte sie ihren Mantel anziehen? Felise war nach unten geeilt, ohne etwas Warmes überzuwerfen. Wie die anderen. Auch Brian. Brian! Er durfte sich nicht erkälten. Sie holte sich seinen Mantel und ließ ihren zurück. An der Tür wartete sie einen Augenblick und lauschte ängstlich. Nichts zu hören. Keine Stimmen mehr. Keine Schritte. Ganz langsam öffnete sie die Tür. Das Wohnzimmer war leer. Sie ging ins Treppenhaus.
    Im Hausflur unterhalb hörte sie das schwache Geräusch von Schritten, die hinunterstiegen, eine Tür, die geöffnet und geschlossen wurde, und weit entfernte Stimmen.
    Sie ging die Treppen hinunter, hinunter, hinunter, auf den fröstelnden Armen Brians schweren Mantel, der auf jeder Stufe hinterherschleifte.
    Was sollte sie ihnen sagen, wenn sie schließlich die endlosen Treppen geschafft hatte? Sie hätte mit ihnen hinausstürmen sollen. Welchen Grund konnte sie angeben, dass sie so trödelte? Sie wusste selbst nicht, warum. Und was sonst würde man sie fragen? Ihre Hand war es gewesen, die sich zu Clare hin ausgestreckt hatte. Was war damit?
    Mitten in ihren Überlegungen und Fragen tauchte ein so schrecklicher Gedanke auf, dass sie sich am Treppengeländer festhalten musste, um sich davor zu bewahren, in die Tiefe zu stürzen. Ihr zitternder Körper war nass von kaltem Schweiß. Ihr Atem kam stoßweise und schmerzhaft.
    Was, wenn Clare nicht tot war?
    Ihr wurde übel bei der Vorstellung, dass der herrliche Körper verstümmelt war, und auch übel vor Angst.
    Wie sie den Rest des Weges schaffte, ohne ohnmächtig zu werden, blieb ihr immer ein Rätsel. Doch schließlich war sie ganz unten. Und dort stieß sie auf die anderen, die von einem kleinen Kreis von Fremden umgeben waren. Sie sprachen alle im Flüsterton, mit eingeschüchterter, diskret gesenkter Stimme, wie es bei einer Katastrophe angemessen ist. Im ersten Moment wollte sie umdrehen und den Weg zurückeilen, den sie gekommen war. Dann erfasste sie ruhige Verzweiflung. Sie riss sich zusammen, körperlich und geistig.
    »Irene ist jetzt da«, verkündete Dave Freeland und sagte ihr, sie hätten eben erst ihre Abwesenheit bemerkt und vermutet, sie sei wohl in Ohnmacht gefallen oder so etwas, und wollten gerade nachsehen. Felise klammerte sich an seinen Arm, ihre dreiste Lässigkeit war verschwunden, und das goldene Braun ihres hübschen Gesichts war seltsam fahl geworden.
    Irene gab nicht zu erkennen, dass sie Freeland gehört hatte, sondern ging schnurstracks zu Brian. Sein Gesicht sah gealtert und verändert aus, und seine Lippen waren rotblau und zitterten. Ihr Verlangen war groß, ihn zu trösten, um Leid und Schrecken verschwinden zu lassen. Aber sie war hilflos, da sie die Gewalt über seinen Geist und sein Herz völlig verloren hatte.
    Sie stammelte: »Ist sie – ist sie –?«
    Felise antwortete: »Sofort, glauben wir.«
    Irene wehrte sich gegen das Schluchzen, das ihr vor Dankbarkeit die Kehle hochstieg. Nachdem sie es hinuntergeschluckt hatte, wurde es ein Wimmern wie von einem verletzten Kind. Jemand legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Brian hüllte sie in seinen Mantel. Sie begann herzzerreißend zu weinen, wobei ihr Körper sich unter dem krampfhaften Schluchzen hob und senkte. Er machte einen eher routinemäßigen Versuch, sie zu trösten.
    »Ruhig, ruhig, Irene. Nicht weinen. Du wirst noch ganz krank. Sie ist –« Die Stimme brach ihm plötzlich.
    Wie aus weiter Ferne hörte sie Ralph Hazeltons Stimme: »Ich hatte sie gerade angeschaut. Sie ist einfach umgekippt und war weg in null Komma nichts. Vermutlich ohnmächtig geworden. Mein Gott! Das ging schnell. So etwas Schnelles hab ich noch nie im Leben gesehen.«
    »Unmöglich, sage ich Ihnen. Absolut unmöglich!«
    Brian sprach mit einer hektischen, heiseren Stimme, wie Irene sie noch nie bei ihm gehört hatte. Ihr zitterten die Knie.
    Dave Freeland sagte: »Einen Moment, Brian. Irene war genau neben ihr. Hören wir doch, was sie zu sagen hat.«
    Sie durchlebte einen Moment krasser, nackter Angst. O Gott, dachte sie, flehte sie, hilf mir.
    Ein Unbekannter sprach sie in förmlich gebieterischem Ton an. »Sind Sie sicher, dass sie gefallen ist? Dass ihr Ehemann ihr keinen Stoß
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher