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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
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hatte. Und es waren genau die richtigen Worte für ihren Zweck gewesen.
    Denn als Clare aufstand und aus dem Zimmer ging, sah sie, dass dieses Arrangement so gut wie ihr erster Plan war, sie hier oben warten zu lassen, während sie sich fertig machte – besser sogar. Clare hätte sie nur aufgehalten und ihre Nerven strapaziert. Und was machte es schon aus, wenn die beiden eine Stunde mehr oder weniger allein miteinander verbrachten, eine oder viele Stunden, jetzt, da alles zwischen ihnen gelaufen war?
    Ah! Zum ersten Mal hatte sie sich eingestanden, dass alles gelaufen war, hatte sich nicht gezwungen, hoffnungsvoll zu glauben, dass nichts Unwiderrufliches passiert war! Nun denn, es war geschehen. Sie wusste es und wusste, dass sie es wusste.
    Sie war überrascht, dass sie, nachdem sie den Gedanken gewagt und sich die Tatsache eingestanden hatte, nicht verletzter, betroffener war als bei ihrer früheren fieberhaften Anstrengung, verschont zu bleiben. Und dass sie keinen heftigen, unerträglichen Schmerz spürte, kam ihr ungerecht vor, als hätte man ihr den erlesenen Trost des Leidens versagt, den das volle Eingeständnis ihr hätte geben sollen.
    War es vielleicht so, dass sie schon alles ertragen hatte, was eine Frau an quälender Demütigung und Angst ertragen konnte? Oder mangelte es ihr an extremer Leidensfähigkeit? ›Nein, nein!‹, widersprach sie sich selbst. ›Ich bin ein Mensch wie jeder andere. Ich bin lediglich so müde, so ausgelaugt, dass ich nichts mehr fühlen kann.‹ Aber das glaubte sie nicht wirklich.
    Sicherheit. War das bloß ein Wort? Wenn nicht, konnte man sie dann nur durch das Opfern anderer Dinge wie Glück, Liebe oder wilde, von ihr nie erlebte Ekstase erlangen? Und machte einen dieses ständige Bemühen, dieser Glauben an die Sicherheit und Beständigkeit ungeeignet für diese anderen Dinge?
    Irene wusste es nicht, kam zu keinem Schluss, obwohl sie lange Zeit dasaß, sich mit Fragen herumschlug und zu verstehen versuchte. Dabei war ihr aber bewusst, dass ihr bei all ihrem Grübeln und dem Gefühl der Enttäuschung die Sicherheit das Wichtigste im Leben war, das, was sie am sehnlichsten wünschte. Gegen keines der anderen Dinge oder auch nicht gegen alle zusammen würde sie ihre Sicherheit eintauschen. Sie wollte nur Ruhe haben. Nur ungestört sein, um das Leben ihrer Söhne und ihres Mannes zu deren eigenem Besten lenken zu können.
    Jetzt, da sie frei war von dem fast schuldhaften Wissen, indem sie sich eingestanden hatte, was sie wie durch einen sechsten Sinn längst gewusst hatte, konnte sie wieder Pläne schmieden. Konnte wieder auf Wege sinnen, um Brian an ihrer Seite in New York zu halten. Denn sie würde nicht nach Brasilien gehen. Sie gehörte in dieses Land der hochstrebenden Türme. Sie war Amerikanerin. Sie wuchs aus diesem Boden und ließe sich nicht herausreißen. Nicht einmal wegen Clare oder hundert Clare Kendrys.
    Auch Brian gehörte hierher. Er hatte seine Pflicht ihr und seinen Söhnen gegenüber.
    Sonderbar, dass sie sich nicht sicher sein konnte, je wahrhaft geliebt zu haben. Nicht einmal Brian. Er war ihr Mann und der Vater ihrer Söhne. Aber war er mehr für sie? Hatte sie je mehr gewollt, sich darum bemüht? In dieser Stunde glaubte sie es nicht.
    Und dennoch hatte sie vor, ihn zu halten. Ihre frisch geschminkten Lippen wurden zu einer schmalen, geraden Linie. Es stimmte, sie hatte aufgehört, sich einzureden, dass er und Clare sich liebten und doch nicht liebten, aber sie hatte immer noch vor, am Gerüst ihrer Ehe festzuhalten, ihr Leben sollte geregelt und verlässlich sein. Obwohl sie der widerlichen Realität ins Auge schaute, zuckte ihre verwöhnte Natur nicht zurück. Besser, weit besser, Brian zu teilen, als ihn völlig zu verlieren. Sie konnte die Augen notfalls schließen. Sie konnte es ertragen. Sie konnte alles ertragen. Und März war nicht weit. März und Clares Abreise.
    Mit entsetzlicher Deutlichkeit erkannte sie nun den Grund, warum sie instinktiv die Nachricht von ihrer Begegnung mit Bellew zurückhielt – vielmehr unterschlug. Wenn Clare frei wäre, konnte alles passieren.
    Sie hielt beim Anziehen inne, da sie mit völliger Klarheit die dunkle Wahrheit erkannte, die sie vom ersten Oktobernachmittag an bei Clare Kendry gefühlt und vor der Clare selbst sie einmal gewarnt hatte – sie bekam die Dinge, die sie haben wollte, da sie die entscheidende Bedingung des Eroberns erfüllte, die opfern heißt. Wenn Clare Brian haben wollte, würde sie vor
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