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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
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Oder war es das Radio? Sie wusste nicht, was sie weniger mochte. Und niemand hörte sich das Gedudel an. Geplauder und Lachen verstummten keine Minute. Warum mussten sie noch mehr Lärm haben?
    Dave kam mit ihrem Drink. »Du solltest«, riet er ihr, »nicht so nah am Fenster stehen. Du wirst dich erkälten. Komm, unterhalte dich mit mir, oder hör dir mein Gebrabbel an.« Er nahm ihren Arm und führte sie durch das Zimmer. Sie hatten sich gerade gesetzt, als es an der Tür klingelte und Felise ihm zurief, er solle öffnen.
    Im nächsten Augenblick hörte Irene seine Stimme in der Diele mit lässiger Höflichkeit: »Ihre Frau? Tut mir leid. Ich fürchte, da irren Sie sich. Vielleicht nebenan –«
    Dann John Bellews brüllende Stimme über den anderen Geräuschen im Raum: »Ich irre mich nicht! Ich war bei den Redfields, und ich weiß, sie ist bei Ihnen. Besser, Sie gehen mir aus dem Weg und ersparen sich damit eine Menge Ärger.«
    »Was ist, Dave?« Felise lief zur Tür.
    Und Brian ebenfalls. Irene hörte, wie er sagte: »Ich bin Redfield. Was zum Teufel ist los mit Ihnen?«
    Aber Bellew beachtete ihn nicht. Er drängte an ihnen vorbei ins Wohnzimmer, geradewegs auf Clare zu. Alle blickten Clare an, als sie vom Stuhl aufstand und vor ihm zurückwich.
    »Du bist also ein Nigger, ein verdammt dreckiger Nigger!« Seine Stimme war ein wütendes Knurren und Stöhnen, Ausdruck von Wut und Schmerz.
    Alles geriet durcheinander. Die Männer waren aufgesprungen. Felise war mit einem Satz zwischen ihnen und Bellew und sagte kurz angebunden: »Vorsicht. Sie sind der einzige Weiße hier.« Die metallene Kühle ihrer Stimme wie ihre Worte eine einzige Warnung.
    Clare stand am Fenster, so gelassen, als würde niemand sie neugierig und verwundert anstarren, als läge nicht ihr ganzes Leben in Scherben vor ihr. Sie schien sich keiner Gefahr bewusst zu sein, oder es war ihr gleichgültig. Sogar ein leichtes Lächeln war auf ihren vollen roten Lippen und in ihren glänzenden Augen.
    Dieses Lächeln machte Irene rasend. Sie lief durch das Zimmer, aggressiv in ihrer Panik, und legte eine Hand auf Clares nackten Arm. Ein Gedanke beherrschte sie. Sie konnte nicht dulden, dass Clare Kendry von Bellew fallengelassen wurde. Konnte nicht dulden, dass sie frei war.
    Vor ihnen stand John Bellew, nunmehr stumm in seiner Verletztheit und in seinem Zorn. Weiter hinten drängten sich die anderen zusammen, und Brian machte einen Schritt nach vorn.
    Später verbot Irene Redfield sich die Erinnerung an das, was danach passierte. Jedenfalls war sie nie ganz deutlich.
    In dem einen Augenblick war Clare noch da, lebendig, leuchtend, wie eine Flamme aus Rot und Gold. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.
    Ein Keuchen vor Entsetzen, und darüber ein Geräusch, fast nicht menschlich, wie ein Tier in Todesqual. »Nig! Mein Gott! Nig!«
    Fieberhafte Eile von Füßen die vielen Treppen hinunter. Fernes Türenschlagen. Stimmen.
    Irene blieb zurück. Sie setzte sich und blieb ganz still, starrte nur auf einen lächerlichen japanischen Stich an der gegenüberliegenden Wand.
    Fort! Das sanfte weiße Gesicht, das hellglänzende Haar, der irritierende scharlachrote Mund, die verträumten Augen, das einschmeichelnde Lächeln, dieser quälende Liebreiz, der Clare Kendry gewesen war. Diese Schönheit, die an Irenes ruhigem Leben gezerrt hatte. Fort! Die spöttische Kühnheit, das Heldenmütige ihrer Haltung, ihr klingelndes Lachen.
    Irene empfand nichts. Sie war erstaunt, fast ungläubig.
    Was würden die anderen denken? Dass Clare gefallen war? Dass sie sich absichtlich zurückgelehnt hatte? Bestimmt eins davon. Nicht –
    Aber sie durfte nicht dran denken, ermahnte sie sich. Sie war zu müde und zu sehr erschüttert. Und tatsächlich stimmte beides. Sie war völlig erschöpft, und es hatte ihr die Sprache verschlagen. Aber die Gedanken wirbelten. Wenn ihr Kopf doch genauso gedämpft wäre wie ihr Körper; wenn sie doch nur das Bild von ihrer Hand auf Clares Arm aus ihrem Gedächtnis löschen könnte!
    »Es war ein Unfall, ein schrecklicher Unfall«, murmelte sie verbissen. »Ganz bestimmt.«
    Leute kamen das Treppenhaus hinauf. Durch die noch offene Tür hörte sie ihre Schritte und ihre Worte näher und näher.
    Rasch stand sie auf, ging geräuschlos ins Schlafzimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
    Ihre Gedanken rasten. Hätte sie bleiben sollen? Sollte sie zu ihnen hinausgehen? Aber es würden Fragen kommen. An die hatte sie nicht gedacht, an das
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