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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
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gegenüber. Rasse! Etwas, das sie band und sie erdrückte. Welche Schritte sie auch unternehmen oder unterlassen würde, etwas bliebe auf der Strecke. Eine Person oder die Rasse. Clare, sie selbst oder die Rasse. Oder womöglich alle drei. Was für eine bittere Ironie!
    Während Irene Redfield allein im ruhigen Wohnzimmer beim wohligen Schein des Kaminfeuers saß, wünschte sie sich zum ersten Mal im Leben, nicht als Schwarze geboren zu sein. Zum ersten Mal litt sie darunter und bäumte sich auf, weil sie sich der Bürde der Rasse bewusst war. Sie weinte stumm, es war doch schon genug, dass sie als Frau und als Individuum in eigener Sache litt, ohne dass sie auch noch der Rasse wegen leiden musste. Es war unmenschlich und unverdient. Bestimmt war kein anderes Volk so verflucht wie Hams dunkle Kinder.
    Dennoch hielten ihre Schwäche, ihr Zurückweichen, ihre Unfähigkeit, die Sache zu begreifen, sie nicht davon ab, sich inbrünstig zu wünschen, dass John Bellew es irgendwie ohne ihr Dazutun entdecken würde, nicht, dass seine Frau schwarzes Blut in den Adern hatte – das wollte Irene nicht –, sondern dass sie während seiner Abwesenheit aus der Stadt ihre ganze Zeit im schwarzen Harlem verbrachte. Nur das. Es würde reichen, um Clare Kendry für immer loszuwerden.

drei
    Wie als Antwort auf ihren Wunsch sah Irene sich schon am nächsten Tag Auge in Auge mit Bellew.
    Sie war mit Felise Freeland zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Der Tag war ungewöhnlich kalt, und der starke Wind trieb Felise ein dunkles Rot auf ihre glatten, goldfarbenen Wangen und Tränen in Irenes sanftbraune Augen.
    Sie klammerten sich aneinander, die Köpfe gegen den Wind gestemmt, und bogen aus der Avenue in die Fifty-Seventh Street. Eine Bö schleuderte sie mit unerwarteter Heftigkeit um die Ecke, und sie stießen mit einem Mann zusammen.
    »Entschuldigung«, sagte Irene lachend und schaute hoch in das Gesicht von Clare Kendrys Mann.
    »Mrs. Redfield!«
    Er zog den Hut, streckte die Hand aus und lächelte freundlich.
    Aber das Lächeln verschwand sofort. Überraschung, Ungläubigkeit – und war es Begreifen? – zeigten sich in seinen Gesichtszügen.
    Er hatte Felise, deren Arm noch in dem ihren eingehakt war, bewusst wahrgenommen, goldfarben, mit krausem, schwarzem Negerhaar. Irene war sich nun sicher, dass sein Gesicht Begreifen ausdrückte, als er sie wieder anschaute und dann zu Felise blickte. Und Missfallen.
    Er nahm aber seine ausgestreckte Hand nicht zurück. Nicht sofort.
    Doch Irene nahm sie nicht. Instinktiv war ihr Gesicht beim ersten Blick des Wiedererkennens zu einer Maske erstarrt. Sie warf ihm einen völlig verständnislosen Blick zu, ein wenig fragend. Als sie sah, dass er noch immer mit ausgestreckter Hand dastand, gab sie ihm den kühl taxierenden Blick, den sie sich für Aufreißer vorbehielt, und zog Felise weiter.
    Felise zog die Wörter in die Länge: »Aha! Wohl mal als Weiße ›durchgegangen‹, was? Und jetzt hab ich’s vermasselt.«
    »Leider ja.«
    »Na so was, Irene Redfield! Es klingt, als machte es dir schrecklich viel aus. Tut mir leid.«
    »Stimmt, aber nicht aus dem Grund, den du meinst. Ich habe mich, glaube ich, niemals im Leben als einheimische Weiße ausgegeben, außer dem Komfort zuliebe wie in Restaurants, für Theaterkarten und so Sachen. Niemals gesellschaftlich, will ich sagen, mit einer Ausnahme. Du bist gerade an der einzigen Person vorbeigegangen, die ich je als Weiße getarnt kennengelernt habe.«
    »Tut mir schrecklich leid. ›Seid sicher, eure Sünde wird euch finden‹ und so weiter. Erzähl mir davon.«
    »Würde ich ja gern. Du wärst amüsiert. Aber ich kann nicht.«
    Felises Lachen war so ungezwungen lässig wie ihre ruhige Stimme.
    »Ist es möglich, dass die ehrliche Irene – Oh, guck dir den Mantel an! Da drüben. Den roten. Ist der nicht ein Traum?«
    Irene dachte: ›Ich hatte meine Chance und habe sie nicht genutzt. Ich hätte nur den Mund aufmachen und ihn Felise mit der beiläufigen Bemerkung vorstellen sollen, dass er Clares Mann ist. Nur das. Blöd. Blöd.‹ Diese instinktive Loyalität ihrer Rasse gegenüber. Warum konnte sie sich davon nicht befreien? Warum sollte die Loyalität Clare mit einbeziehen? Clare, die nur wenig Rücksicht auf sie und die Ihren genommen hatte. Sie fühlte nicht so sehr Unmut als dumpfe Verzweiflung, weil sie sich in dieser Hinsicht nicht ändern konnte, sie konnte Einzelpersonen nicht von der Rasse trennen, sich selbst von Clare
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