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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
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eigenen Ohren hören, was Clare zu sagen hatte. Aber sie wartete.
    Nach ihrer Rückkehr meldete Zulena: »Sie sagt, Ma’am, dass sie heute Abend zu den Freelands mitgehen kann. Sie wird so zwischen acht und neun hier sein.«
    »Danke, Zulena.«
    Der Tag schleppte sich seinem Ende entgegen.
    Beim Essen sprach Brian mit Bitterkeit von einem Lynchmord, über den er in der Abendzeitung gelesen hatte.
    »Papa, warum lynchen sie nur Farbige?«, fragte Ted.
    »Weil sie die hassen, mein Sohn.«
    »Brian!« Irenes Stimme war Appell und Vorwurf zugleich.
    Ted sagte: »Ja, und warum hassen sie die?«
    »Weil sie Angst vor ihnen haben.«
    »Aber wieso haben sie Angst vor ihnen?«
    »Weil –«
    »Brian!«
    »Mir scheint, mein Sohn, wir können mit diesem Thema im Augenblick nicht weitermachen, ohne die Damen unserer Familie zu betrüben«, erläuterte er dem Jungen mit gespieltem Ernst, »aber wir kommen irgendwann darauf zurück, wenn wir beide allein sind.«
    Ted nickte in seiner einnehmend gravitätischen Art. »Verstehe. Vielleicht können wir morgen auf dem Weg zur Schule darüber reden.«
    »Einverstanden.«
    »Brian!«
    »Mama«, bemerkte Junior, »das ist jetzt das dritte Mal, dass du ›Brian‹ auf diese Art gesagt hast.«
    »Aber nicht das letzte Mal, Junior, keine Angst«, konstatierte sein Vater.
    Nachdem die Jungen sich nach oben auf ihre eigene Etage verzogen hatten, sagte Irene freundlich: »Ich wünschte mir sehr, Brian, dass du vor Ted und Junior nicht übers Lynchen sprichst. Ich finde es unverzeihlich, dass du so eine Sache beim Essen erwähnst. Sie haben noch genügend Zeit, diese schrecklichen Dinge zu erfahren, wenn sie älter sind.«
    »Da liegst du völlig falsch! Wenn sie, da du es so unbedingt willst, in diesem verdammten Land leben müssen, wäre es besser, sie fänden möglichst bald heraus, mit was sie es zu tun haben. Je früher sie es erfahren, desto besser sind sie darauf vorbereitet.«
    »Da bin ich anderer Meinung. Ich möchte, dass ihre Kindheit glücklich ist und so unbeschwert wie möglich, ohne Kenntnis von solchen Dingen.«
    »Sehr lobenswert«, lautete Brians ironische Antwort. »Wirklich sehr lobenswert, alles in allem. Aber geht das überhaupt?«
    »Bestimmt. Wenn du nur deine Schuldigkeit tust.«
    »Dummes Zeug! Du weißt so gut wie ich, Irene, dass das nicht geht. Was hat denn all unsere Mühe gebracht, sie von dem Wort ›Nigger‹ und was es alles bedeutet fernzuhalten? Sie haben es selbst herausgefunden, nicht? Und wie? Weil jemand Junior als dreckigen Nigger tituliert hat.«
    »Trotzdem, du sollst mit ihnen nicht über das Rassenproblem sprechen. Ich werde das nicht zulassen.«
    Sie starrten einander wütend an.
    »Ich sag’s dir, Irene, sie müssen über diese Dinge Bescheid wissen, und das kann genauso gut jetzt sein wie später.«
    »Nein, müssen sie nicht!«, beharrte Irene und hielt die zornigen Tränen zurück, die zu fließen drohten.
    Brian sagte murrend: »Ich kann nicht verstehen, wie jemand, der von sich gern denkt, er sei intelligent, Anzeichen solcher Dummheit zeigt.« Er blickte sie ratlos und gequält an.
    »Dumm!«, schrie sie. »Ist es dumm, wenn ich meine Kinder glücklich sehen möchte?« Ihre Lippen zitterten.
    »Wenn es auf Kosten angemessener Vorbereitung auf das Leben und ihr zukünftiges Glück ist, ja. Und ich habe das Gefühl, ihnen gegenüber nicht meine Pflicht zu tun, wenn ich ihnen nicht eine ungefähre Vorstellung von dem gebe, was sie erwartet. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich wollte sie schon vor Jahren aus diesem grauenhaften Land herausholen. Du hast mich nicht gelassen. Ich habe den Gedanken aufgegeben, weil du dagegen warst. Erwarte nicht von mir, dass ich alles aufgebe.«
    Bei diesem verbalen Peitschenhieb blieb sie stumm. Bevor ihr eine Antwort einfiel, hatte er sich umgewandt und war aus dem Zimmer gegangen.
    Als sie allein in dem einsamen Esszimmer saß und unbewusst die Hände auf dem Schoß zusammenpresste, bekam sie einen Zitteranfall. Die gerade erlebte Szene mit ihrem Mann hatte etwas Unheilvolles. Immer wieder drängten sich ihr seine letzten Worte in den Kopf: ›Erwarte nicht von mir, dass ich alles aufgebe.‹ Was hatten sie bedeutet? Was konnten sie bedeuten? Clare Kendry?
    Sie würde bestimmt noch verrückt vor Angst und Misstrauen. Sie durfte sich da nicht hineinsteigern. Ja nicht! Wo war die Selbstbeherrschung und der gesunde Menschenverstand, auf die sie so stolz war? Jetzt, wenn überhaupt, war die Zeit
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