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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
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haben gesagt, dieser alte Säufer habe Ham und seine Söhne für alle Zeit verflucht.«
    Irene lachte. Aber Clare blieb ganz ernst.
    »Das war mehr als ein Witz, versichere ich dir, ’Rene. Es war ein hartes Leben für eine Sechzehnjährige. Dennoch, ich hatte ein Dach überm Kopf und Essen und Kleidung – gerade mal das Nötigste. Und es gab die Heilige Schrift und Gespräche über Moral und Sparsamkeit und Fleiß und die Güte des Herrn.«
    »Clare, hast du jemals daran gedacht«, hakte Irene nach, »wie viel Unglück und wie viel schlimme Grausamkeit der Güte des Herrn zugeschrieben werden? Und anscheinend immer von Seinen eifrigsten Anhängern.«
    »Ob ich das habe?«, rief Clare aus. »Genau diese Güte, genau diese Anhänger haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Denn natürlich war ich fest entschlossen, wegzukommen, ein Mensch zu sein und nicht ein Objekt der Wohltätigkeit oder ein Problem oder auch die Tochter des leichtfertigen Ham. Dann wollte ich auch bestimmte Dinge. Ich wusste, dass ich nicht schlecht aussah und dass ich ›die Seite wechseln‹ konnte. Du kannst ja nicht wissen, ’Rene, wie ich euch alle immer, wenn ich hinüber zur South Side ging, geradezu gehasst habe. Ihr hattet alles, was ich mir wünschte und nie gehabt hatte. Es machte mich nur noch entschlossener, das und noch viel mehr zu bekommen. Verstehst du, kannst du verstehen, was ich gefühlt habe?«
    Sie schaute hoch, der Blick ein einziger Appell, und da sie offenbar den mitfühlenden Ausdruck in Irenes Gesicht als ausreichende Reaktion empfand, fuhr sie fort. »Die Tanten waren schon seltsam. Trotz ihrer Bibeln und ihrer Gebete und ihres pathetischen Geredes von Wahrhaftigkeit wollten sie nicht, dass jemand erfuhr, dass ihr geliebter Bruder ein schwarzes Mädchen verführt – ins Verderben gerissen hatte, wie sie es nannten. Sie konnten das Verderben entschuldigen, aber nicht das schwarze Blut in den Adern verzeihen. Sie verboten mir, gegenüber den Nachbarn Schwarze zu erwähnen oder überhaupt die South Side. Du darfst sicher sein, dass ich es nicht getan habe. Ich wette, sie waren rechtschaffen, und später tat es ihnen leid.«
    Sie lachte, und das Geklingel ihres Lachens hatte einen harten, metallischen Klang.
    »Als die Möglichkeit sich bot, wegzukommen, hat mir genau dieses Verschweigen sehr geholfen. Jack, ein Schulfreund von einem Nachbarn, tauchte mit unermesslich viel Geld aus Südamerika auf, und es gab niemanden, der ihm erzählte, dass ich eine Farbige war, und andererseits viele, die ihm von Tante Graces und Tante Ednas Strenge und Frömmigkeit erzählten. Den Rest kannst du dir denken. Nach seiner Ankunft hörte ich auf, mich zur South Side davonzustehlen, sondern schlich mich vielmehr davon, um mich mit ihm zu treffen. Beides konnte ich nicht unter einen Hut bringen. Schließlich hatte ich keine große Schwierigkeit, ihn zu überzeugen, dass es sinnlos war, mit den Tanten übers Heiraten zu sprechen. Und so liefen wir an dem Tag fort, an dem ich achtzehn wurde, und haben geheiratet. Und das war’s. Nichts leichter als das.«
    »Ja, für dich war es tatsächlich leicht. Übrigens frage ich mich, wieso sie Vater nicht gesagt haben, dass du geheiratet hast? Er ist doch zu ihnen gekommen, wollte herausfinden, warum du uns nicht mehr besuchst. Bestimmt haben sie ihm nichts davon erzählt. Jedenfalls nicht, dass du geheiratet hast.«
    Clare Kendrys Augen glänzten von Tränen, die nicht fielen. »Wie schön! Dass er mich so gern hatte, dass er das getan hat! Der liebe, gute Mann! Nun, sie konnten es ihm nicht sagen, weil sie es nicht wussten. Ich habe dafür gesorgt, ich konnte mir nämlich nicht sicher sein, dass ihr Gewissen nicht später auf sie einwirken würde und sie die Katze aus dem Sack ließen. Die armen Alten dachten wahrscheinlich, dass ich in Sünde lebte, wo immer ich auch war. Und es war ja auch das, was sie erwartet hatten.«
    Ein amüsiertes Lächeln erhellte für den Bruchteil einer Sekunde das schöne Gesicht. Nach einem kurzen Schweigen sagte sie ernst: »Aber es tut mir leid, wenn sie es deinem Vater so erzählt haben. Damit hatte ich nicht gerechnet.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob das der Fall war«, sagte Irene. »Er hat jedenfalls nichts dergleichen erzählt.«
    »Das würde er nicht tun, ’Rene, Liebes. Nicht dein Vater.«
    »Danke. Sicherlich nicht.«
    »Aber du hast auf meine Frage noch nicht geantwortet. Sag mir ehrlich, hast du nie daran gedacht ›die Seite zu
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