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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
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sie sich eingestand, sie war erleichtert. Und genau aus dem Grund, den Clare angedeutet hatte. Die Tatsache, dass Clare ihre Beunruhigung erahnt hatte, schmälerte jedoch keineswegs die Erleichterung. Sie ärgerte sich, dass sie bei einer scheinbaren Unaufrichtigkeit ertappt worden war; aber das war alles.
    Der Kellner kam mit Clares Wechselgeld. Irene mahnte sich, dass sie gleich aufbrechen sollte. Aber sie rührte sich nicht.
    Es war einfach so, dass sie neugierig war. Es gab Dinge, die sie Clare Kendry fragen wollte. Sie wollte herausfinden, was es mit dem riskanten Seitenwechsel auf sich hatte, diesem Ausbrechen aus allem, was einem vertraut und angenehm war, um sein Glück in einer anderen Umwelt zu versuchen, die vielleicht nicht ganz und gar fremd, bestimmt aber nicht ganz und gar angenehm war. Was man zum Beispiel mit der Herkunft machte, wie man über sich selbst Rechenschaft ablegte. Und wie man sich fühlte, wenn man mit anderen Schwarzen in Kontakt kam. Aber sie konnte nicht. Sie war unfähig, auch nur auf eine einzige Frage zu kommen, die in diesem Zusammenhang oder in ihrer Formulierung nicht allzu dreist, wenn nicht gar unverschämt war.
    Als wenn Clare von Irenes Wunsch und ihrem Zögern Kenntnis hätte, bemerkte sie nachdenklich: »Weißt du, ’Rene, ich habe mich oft gefragt, warum nicht mehr Farbige, Mädchen wie du und Margaret Hammer und Esther Dawson und – ach, viele andere – ›die Seiten gewechselt‹ haben. Es ist so furchtbar einfach. Wenn man der Typus ist, braucht man nicht mehr als ein bisschen Mut.«
    »Was ist mit dem eigenen Hintergrund? Der Familie, meine ich. Man kann doch nicht einfach aus dem Nichts bei Leuten hereinschneien und erwarten, dass sie einen mit offenen Armen empfangen, oder?«
    »Eigentlich doch«, versicherte Clare. »Du wärst überrascht, ’Rene, wie viel leichter das mit Weißen ist als mit uns. Vielleicht, weil es so viele mehr von ihnen gibt, oder vielleicht, weil sie sicher sind und sich damit nicht plagen müssen. Ich bin noch zu keinem Ergebnis gekommen.«
    Irene blieb eher ungläubig. »Willst du behaupten, dass du nicht erklären musstest, woher du kommst? Das scheint mir unmöglich.«
    Clare warf ihr über den Tisch einen Blick kaum unterdrückter Belustigung zu.
    »Tatsache ist, ich habe es nicht gemacht. Vermutlich hätte ich allerdings unter anderen Umständen eine plausible Geschichte liefern müssen, um Rechenschaft über mich abzugeben. Ich habe eine rege Phantasie, ich hätte das also durchaus löblich und glaubwürdig hingekriegt. Aber es war nicht nötig. Da waren meine Tanten, weißt du, angesehen und authentisch genug für alles und jedermann.«
    »Ich verstehe. Sie haben auch ›die Seiten gewechselt‹.«
    »Nein. Haben sie nicht. Sie waren weiß.«
    »Oh!« Und im nächsten Augenblick erinnerte sich Irene, dass sie das schon früher gehört hatte; von ihrem Vater, wahrscheinlicher noch von ihrer Mutter. Es waren Bob Kendrys Tanten. Er war der Sohn ihres Bruders gewesen, aus einer Ehe zur linken Hand. Eine Jugendsünde.
    »Es waren nette, alte Damen«, erklärte Clare, »sehr gläubig und arm wie Kirchenmäuse. Der Bruder, den sie so verehrten, mein Großvater, verpulverte jeden Groschen von ihnen, nachdem er das Wenige, was ihm gehörte, durchgebracht hatte.«
    Clare machte eine Pause und zündete sich eine weitere Zigarette an. Ihr Lächeln, ihr Gesichtsausdruck verrieten, wie Irene bemerkte, leisen Groll.
    »Da sie fromme Christen waren«, fuhr sie fort, »erfüllten sie, als Papa sein beschwipstes Ende fand, ihre Pflicht und gaben mir eine Art Zuhause. Von mir wurde allerdings erwartet, dass ich mir meinen Lebensunterhalt verdiente, indem ich alle Hausarbeit erledigte und den Großteil der Wäsche. Aber man muss sich klarmachen, ’Rene, wenn das nicht geschehen wäre, hätte ich kein Zuhause in der Welt gehabt.«
    Irenes Nicken und kurzes Gemurmel waren anteilnehmend, verständnisvoll.
    Clare verzog spöttisch ihren Mund und erzählte weiter: »Außerdem war ihrer Ansicht nach harte Arbeit gut für mich. Ich hatte Negerblut in mir, und sie gehörten zu der Generation, die lange Artikel geschrieben und gelesen hatte mit der Überschrift: ›Wollen die Schwarzen arbeiten?‹ Auch waren sie sich nicht völlig sicher, ob der liebe Gott nicht im Sinn gehabt habe, dass Hams Söhne und Töchter sich abschinden sollen, weil Ham sich einmal lustig gemacht hatte über den alten Noah, als der einen Tropfen zu viel intus hatte. Meine Tanten
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