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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
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häuslichen Pflichten in ihrem neuen Zuhause abgezwackt waren. Mit jedem nachfolgenden Besuch war sie höher aufgeschossen, armseliger gekleidet und von aggressiverer Empfindlichkeit gewesen. Und jedes Mal hatte das Gekränkte und Grüblerische in ihrem Gesicht zugenommen. »Ich mache mir Sorgen wegen Clare, sie scheint so unglücklich zu sein«, erinnerte sich Irene an die Worte ihrer Mutter. Die Besuche ließen nach, wurden kürzer, seltener und erfolgten in noch größeren Abständen, bis sie schließlich ganz aufhörten.
    Irenes Vater hatte Bob Kendry gerngehabt und sich etwa zwei Monate nach Clares letztem Besuch eigens zur West Side aufgemacht, von wo er mit der knappen Nachricht zurückkehrte, er habe die Verwandten gesehen, und Clare sei verschwunden. Was er ihrer Mutter in der Zurückgezogenheit ihres gemeinsamen Zimmers sonst noch anvertraut hatte, wusste Irene nicht.
    Aber sie hatte mehr als einen vagen Verdacht hinsichtlich des Inhalts. Denn es hatte Gerüchte gegeben. Gerüchte, die für Mädchen von achtzehn und neunzehn Jahren interessant und aufregend waren.
    Eines davon war, dass Clare Kendry zur Essenszeit in einem eleganten Hotel gesichtet worden war, begleitet von einer Frau und zwei Männern, die alle Weiße waren. Und aufgedonnert! Ein anderes Gerücht besagte, dass sie durch Lincoln Park mit einem Mann im Auto gefahren war, unverkennbar einem Weißen und offensichtlich reich. Packard-Limousine, livrierter Chauffeur und was dazugehört. Es hatte andere Gerüchte gegeben, deren Zusammenhang Irene nicht mehr einfiel, aber alle wiesen in die gleiche glamouröse Richtung.
    Und sie konnte sich recht lebhaft daran erinnern, wie die Mädchen, wenn sie die verlockenden Geschichten von Clare wieder und wieder durchgingen, einander immer wissend anblickten und dann mit exaltiertem Kichern ihre erwartungsvoll glänzenden Augen abwandten und mit lauernden Zwischentönen von Bedauern und Zweifel Sachen äußerten wie »Na ja, vielleicht ist sie berufstätig oder macht sonst was«, oder »Am Ende war es vielleicht gar nicht Clare«, oder »Man kann nicht alles glauben, was man hört«.
    Und immer erklärte irgendein Mädchen, sachlicher oder offener boshaft als der Rest: »Natürlich war es Clare! Ruth hat gesagt, sie war es, und Frank auch, und die erkennen sie ganz bestimmt, wenn sie sie sehen, genau wie wir.« Und jemand anderes sagte: »Na klar war das Clare, wer sonst.« Worauf alle wie im Chor bestätigten, dass es ganz ohne Zweifel Clare gewesen war und solche Umstände nur eins bedeuten konnten. Und so was nannte sich arbeiten! Man nahm doch die eigenen Bediensteten nicht mit ins Shelby zum Abendessen. Und bestimmt nicht allesamt so aufgedonnert. Worauf man bedenklich den Kopf schüttelte und jemand sagte: »Armes Mädchen, vermutlich ist da etwas dran, aber was kann man denn erwarten? Seht euch den Vater an. Und von ihrer Mutter heißt es ja, die wäre davongelaufen, wäre sie nicht schon tot gewesen. Außerdem hatte Clare immer schon so eine – eine ›Habenwollen-Art‹ an sich.«
    Ganz genau! Die Worte kamen Irene in den Kopf, als sie auf dem Dach des Drayton saß und Clare Kendry ansah. Eine ›Habenwollen-Art‹. Tja, räumte Irene ein, als sie Clare nach ihrem Äußeren und ihrem Auftreten beurteilte, anscheinend hatte sie es geschafft, einige der Dinge zu bekommen, die sie sich wünschte.
    Es sei, wiederholte Irene nach der Bestellung beim Kellner, wirklich eine große Überraschung und eine sehr angenehme dazu, Clare nach all den Jahren, mindestens zwölf, wiederzusehen.
    »Also, Clare, du bist die letzte Person auf der Welt, die zufällig zu treffen ich erwartet hätte. Wahrscheinlich habe ich dich deshalb nicht erkannt.«
    Clare antwortete ernst: »Ja. Zwölf Jahre sind es her. Mich überrascht es nicht, dich zu sehen, ’Rene. Das heißt, nicht zu sehr. Tatsächlich habe ich, seit ich hier bin, mehr oder weniger gehofft, dich oder sonst jemanden zu treffen. Am liebsten natürlich dich. Vermutlich, weil ich oft an dich gedacht habe, während du – ich könnte wetten, nie an mich gedacht hast.«
    Das stimmte natürlich. Nach den anfänglichen Spekulationen und Beschuldigungen war Clare völlig aus Irenes Gedanken verschwunden. Und ebenso aus den Gedanken anderer – sollten ihre Gespräche ein Hinweis darauf sein.
    Außerdem hatte Clare nie richtig zu einer Clique gehört, so wie sie nie nur die Tochter des Hausmeisters gewesen war, sondern die Tochter von Mr. Bob Kendry, der zwar
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