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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Nella Larsen
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merkte, dass sie kurz davor war, selbst ohnmächtig zu werden. Um sich sofort in Sicherheit zu bringen, winkte sie mit zittriger Hand einem Taxi zu, das unmittelbar vor ihr parkte. Der schwitzende Fahrer sprang heraus und half ihr einzusteigen, fast hob er sie hinein. Sie sank auf den warmen Ledersitz.
    Eine Minute lang waren ihre Gedanken verworren. Dann wurden sie klar.
    »Ich brauche wohl einen Tee«, sagte sie zu ihrem Samariter. »Auf einem Dach, irgendwo.«
    »Das Drayton, Ma’am?«, schlug er vor. »Man sagt, dass da oben immer eine Brise herrscht.«
    »Danke. Ich glaube, das Drayton ist genau das Richtige.«
    Es knirschte etwas beim Kuppeln, als der Mann den Gang einlegte, um sich dann geschickt in den brausenden Verkehr einzufädeln. Während der warme Fahrtwind sie belebte, versuchte Irene ihr Erscheinungsbild, das von der Hitze und dem Gedränge etwas ramponiert war, wiederherzurichten.
    Allzu früh bremste das ratternde Fahrzeug am Bürgersteig und hielt. Der Fahrer sprang heraus und öffnete die Tür, bevor der livrierte Hoteldiener sie erreichen konnte. Sie stieg aus, dankte ihm mit einem Lächeln – und in substantiellerer Münze – für seine Hilfsbereitschaft und sein Verständnis und ging durch den breiten Eingang des Drayton.
    Kaum war sie aus dem Aufzug getreten, der sie zur Dachetage gebracht hatte, wurde sie zu einem der Tische direkt vor einem langen Fenster geführt, dessen sanft bewegte Vorhänge eine kühle Brise andeuteten. Es war, dachte sie, als wäre sie auf einem Zauberteppich in eine andere Welt getragen worden, angenehm, ruhig und seltsam fern von der sehr heißen Welt, die sie unter sich gelassen hatte.
    Als der Tee kam, war er all das, was sie ersehnt und erwartet hatte. Ja, er war so sehr das Ersehnte und Erwartete, dass sie ihn nach dem ersten langen, erfrischenden Schluck vergessen konnte, nur ab und zu nippte sie ein wenig abwesend an dem hohen grünen Glas, während sie den Raum um sich musterte oder hinausschaute über niedrigere Gebäude hinweg auf das reglose, glänzende Blau des Sees, der sich zu einem verborgenen Horizont erstreckte.
    Eine Zeitlang hatte sie auf die Pünktchen von Autos und Menschen hinuntergeschaut, die da in den Straßen herumschlichen, und gedacht, wie absurd die doch aussahen, als sie ihr Glas hob und überrascht erkennen musste, dass es leer war. Sie bestellte noch einen Tee, und während sie darauf wartete, erinnerte sie sich an die Ereignisse des Tages und fragte sich, was sie wegen Ted und seinem Zeichenheft tun sollte. Warum nur wollte er fast immer etwas, das schwierig oder unmöglich zu bekommen war? Wie sein Vater. Immerzu etwas wollen, das er nicht haben konnte.
    Jetzt waren Stimmen zu hören, die dröhnende eines Mannes und die leicht rauchige einer Frau. Ein Kellner kam an ihr vorbei, gefolgt von einer lieblich duftenden Frau in einem flatternden, grünen Chiffonkleid, dessen Blumenmuster aus Narzissen, Jonquillen und Hyazinthen angenehm frische Frühlingstage heraufbeschwor. Hinter ihr ging ein Mann mit stark gerötetem Gesicht, der sich Nacken und Stirn mit einem großen, zerknitterten Taschentuch wischte.
    »O je!«, stöhnte Irene, verstimmt, denn nach einigem Hin und Her hatten sie genau am Nachbartisch angehalten. Sie hatte allein am Fenster gesessen, und es war so beglückend ruhig gewesen. Natürlich würden sie reden und reden.
    Aber nein. Nur die Frau setzte sich. Der Mann blieb stehen, befingerte halb abwesend den Knoten seiner hellblauen Krawatte. Über den schmalen Raum hinweg, der die beiden Tische trennte, war seine Stimme klar verständlich.
    »Bis später dann«, verkündete er und schaute auf die Frau hinunter. Es klang freudig, und er hatte ein Lächeln im Gesicht.
    Die Lippen seiner Begleiterin öffneten sich zu einer Antwort, aber der Abstand und die vielfältigen Geräusche, die von den Straßen unten nach oben trieben, ließen ihre Worte verschwimmen. Sie erreichten Irene nicht. Aber sie bemerkte das eigentümliche zärtliche Lächeln, das mit ihnen einherging.
    Der Mann sagte: »Vermutlich sollte ich«, und lächelte wieder, verabschiedete sich und ging.
    Eine attraktive Frau, stand für Irene fest, mit diesen dunklen, fast schwarzen Augen und dem großen Mund wie eine scharlachrote Blume gegen das Elfenbein ihrer Haut. Auch hübsche Kleidung, gerade richtig bei dem Wetter, leicht und kühl, ohne zerknittert zu sein, wozu Sommersachen immer neigen.
    Ein Kellner nahm ihre Bestellung auf. Irene sah, wie sie zu ihm
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