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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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Gedichte. Wenn ich stehe und schaue, verlagert sich meine ganze Persönlichkeit in diesen Knopf und daran hängt mein Körper wie eine Hülle. Mein Körper, dieser bullige, athletische, Angst einflößende Körper ist nichts als die Bauchrednerpuppe des Knopfs im Ohr. Wenn ich zu mir selbst spreche, höre ich mich nur in meinem linken Ohr. Ich dichte, traurige Gedichte, Weiten ohne Menschen, Steppen, ich dichte Steppen, endlose Steppen, die Taiga, staubige Landschaften, in denen plötzlich Hände aus dem Boden sprießen wie Blumen, die blutbefleckten Hände, die hilfesuchenden, ausgestreckten Arme der Menschen, die ich umgebracht habe. Die mein Körper, die Hülle, umgebracht hat. Ich hatte ja nichts gegen sie, warum auch. Ich, das ist nur die Stimme. Ich bin seit Jahren nur mehr die Stimme, mein Körper gehört mir nicht, mein Leib ist Eigentum meiner Stimme im Kopf. Mein Körper ist muskulös, strapazierfähig, er stört die Stimme nicht, ihr ist egal, was er macht, an wen er sich verkauft, welchen Schädel er spaltet, mit welcher Kette er zuschlägt, mit welchem Stück Draht er saubere Zeilen zieht für die Handschrift des Todes. Ich habe dem Tod schon viele Hefte liniert und für jede Zeile schenkt er mir ein Wort, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Untote Worte, Wiedergängerworte, blutsaugende Worte, Worte, die einen Draht spannen von pochender Schläfe zu pochender Schläfe, über denen ich barfuß mit meiner Gedankenstange balanciere, der Stange, mit der ich ihre Hirnschalen zertrümmere, und so setze ich einen Versfuß vor den anderen und unter mir das Nichts, in das ich fallen werde.
    »Redest du wieder mit dir selbst«, schreckte Vladimir ihn auf, der apathisch vor der Skischule stand und unmerklich seine Lippen bewegte, während seine Pupillen die beiden Mädchen auf dem Baby-Lift verfolgten.
    »Du musst mir den Kleinen holen!«
    Vladimir hatte gerade eben seine Mädchen abgeküsst, die er abgöttisch liebte, ja, fast krankhaft liebte, seine Zwillinge, die ihn aus ihren blau leuchtenden Augen anlächelten, bis er in seinem weißen Bogner-Overall hechelnd auf dem Rücken lag, die goldenen Skischuhe im Himmel, und sie ihn kraulen mussten. Für seine Mädchen wäre er in Zeitlupe durchs Feuer gegangen, für sie machte er sich lächerlich, zum Affen, zum Clown, sang, sprang, tanzte, überschlug sich, warf sich Spaghetti ins Haar, ließ schäumende Hotelbadewannen überlaufen. Wurde ihnen etwas verboten oder untersagt, kaufte er es, Billardtische, Sandkästen, Grundstücke, auf denen die Sandkästen standen, Schwimmbäder, oder er ließ Andrej bei mangelnder Kinderliebe die betreffende Person so in die Mangel nehmen, dass sie Bällchen in der Hotellobby apportierte. Vladimir hatte eine Odyssee durch die ganze Welt hinter sich, auf der Suche nach dem einen rettenden Spermium. Die Ärzte hatten ihn für unfruchtbar erklärt, die Kriegszeit in Afghanistan, die Strahlung, Gifte, Drogen, das Rauchen, die Umwelt, was auch immer, er wurde jedes Mal aufs Neue zutiefst erniedrigt, ausgenommen und dann erniedrigt. Bestand auf Versuchen, setzte seine Frau den Hormonbeschüssen aus, wechselte seine Frau, denn vielleicht lag es ja doch an ihr. Er war besser kartographiert als jedes Militärgelände, durchlief alle Prozeduren, Kuren, Analysen, kein Gerät, an das sie ihn nicht angeschlossen hatten. Bis es schließlich klappte, als er nicht mehr daran geglaubt hatte, hier, in Tirol, in Innsbruck. Der letzte Tropfen.
    Ein Typ hatte ihm Geld geschuldet und Andrej hatte den Ort, wo die ganze Kohle geblieben war, mit nassen Handtüchern in einer der netten Familienkabinen im Kitzbüheler Schwimmbad aus ihm herausgeprügelt. Daraufhin hatten sie ihm den Saunagang erspart und Vladimir ließ sich die Adresse geben, obwohl er es leid gewesen war, sich vor Pornos einen runterzuholen.
    Wollte er etwa, dass dann seine Tochter so aussah wie diese kaum volljährigen Schlampen, die irgendwelchen Kerlen, deren Köpfe nicht von ihren Eicheln unterscheidbar waren, die Schwänze lutschten? Oder sich wie rumänische Bodenturnerinnen um erigierte Stangen wanden? Vor allem hasste er Gewalt beim Sex. Aber, es hatte geklappt, und nun winkte er seinen Süßen zu, die mit roten Backen um das Gleichgewicht auf den Brettern kämpften.
    Vladimir war kein Oligarch. Er war eine Art Immobilienmakler für Oligarchen, weltweit. Er war selbst so reich, dass er es nicht nötig gehabt hätte, für andere zu arbeiten, aber er hielt sich zurück, zumindest im
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