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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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kann und immer als Letzter gewählt werde. Papi hat gesagt, dass ich dieses Mal den Pokal gewinne. Und da hat Mami gleich geschimpft. Warum war der Franz heute nicht da, der Franz hat gesagt, ich gewinn den Pokal und er zeigt mir, wie ich ihn gewinnen kann, er gibt mir eine Geheimstunde wie den großen Jungs. Ohne den Franz macht Skifahren gar keinen Spaß, nur auf dem iPad. Da kann ich sogar Skispringen, da spring ich weiter als Papi, da bin ich Olympiasieger, da war ich schon in der ganzen Welt Sieger, sogar in Japan, und der Papi stürzt immer und Mami springt viel zu spät ab. Ich will Skispringer werden, habe ich Papi gesagt, aber Mami hat gesagt, das sei viel zu gefährlich und die sind alle magersüchtig. Wie meine Cousine. Aber die essen doch immer Milka Lila Pause, habe ich ihr gesagt, und sie hat mir ein Legoraumschiff gekauft, Ende der Diskussion, sagt sie dann. Mami will immer das Gegenteil von Papi, und keiner fragt mich, was ich will. Ich will auch immer das Gegenteil. Ich übe heimlich springen und ich heul gar nicht, wenn ich hinfalle, und ich verrat nichts, wenn Mami mich fragt, woher ich die blauen Flecken habe. Das habe ich auch dem Franz erzählt, dass ich nichts verrat. Ich kann schweigen wie ein Grab. Ich bau mir sogar meine eigenen Schanzen. Zumindest Snowboard hätte mich Papi lernen lassen können, aber er will, dass ich erst Skifahren kann. Mir ist so kalt. Ich hasse Sesselliftfahren, mir wird so leicht schlecht.
    Igor hat den Reißverschluss aufbekommen und die Gummibären aus der Tasche gefingert, dabei die Stecken eingeklemmt und seine Sessellift-Nachbarn keines Blickes gewürdigt. Er würde ihnen nichts abgeben. Sie hatten ihn für einen Russen gehalten. Igor, Igor hatten sie geäfft, sich über ihn lustig gemacht und dabei gedacht, er verstünde sie nicht. Sie hatten ihn angerempelt, umgestoßen, ihn mit ihren Stöcken gepiesackt, auf den Helm getrommelt. Hatten sich die Geschichten erzählt, die ihre Eltern sich über die Russen erzählen, über Geldzimmer, Kitsch, Barbaren, die einfielen, alles aufkauften und sich wie die Schweine an unseren Trögen suhlten. Und natürlich waren alles Verbrecher, Mafiosi. Die Jungen schauten Igor an, als wäre er ein Auftragskiller, als könnte man ihm all die Morde vom Gesicht ablesen, als stünde es auf ihrer Stirn geschrieben und auf den Tattoos, die zum Vorschein kamen, wenn sie mittags die Jacken und Pullis abstreiften und mit offenen Hemden und baumelnden Gekreuzigten in Gold vor ihren Magnumjahrgangschampagnerflasche grölten, die für die Jungs wie Raketen aussahen, die jeden Moment in den Himmel starten könnten. Igor beneideten sie, sicher bekäme er alles, was er sich wünschte, und noch bevor er es sich wünschte. Aber er sah ja gar nicht so reich aus, was sie irritierte. Tarnung, meinte einer der besonders Schlauen, damit er nicht entführt werde. Die Jungs dachten sich die abenteuerlichsten Szenarios aus, Bandenkriege, Clans, Folter, alles, was sie irgendwo mitbekommen oder gesehen hatten. Aber Igor war eindeutig der Feind, und sei es nur, weil sie es ihm neideten, dass hinter allem ein Geheimnis lauerte.
    Igor fiel die Gummibärentüte aus der Hand. Er hatte den Handschuh beim Ausziehen verloren, griff panisch nach ihm und dadurch rutschte ihm die Tüte aus den Fingern, und es schneite Gummibären. Sie lachten ihn aus, verhöhnten ihn, zogen demonstrativ ihre Süßigkeiten heraus und vernaschten sie schmatzend, ohne ihm etwas abzugeben. Igor stellte sich vor, wie sie sich hintereinander aufreihten, und dann würde er unerwartet über die Kante springen und sie mit seinen Skispitzen durchbohren. Ich werde es euch allen zeigen, schwor er sich ein. Ich hol mir die Gummibären wieder, und ich werde euch einen solchen Schrecken einjagen, dass ihr euch in die Hosen macht! Und wenn Mami weiter so böse zu Papi ist, werde ich ihm alles erzählen, was in ihrem iPhone steht. Ich will nicht heulen, ich beiß mir auf die Zähne. Warum soll es helfen, sich auf die Zähne zu beißen, ich beiß doch immer auf die Zähne? Beiß auf die Zähne, sagt Papi, ein Indianer kennt keinen Schmerz, du bist doch kein Mädchen.
    Mami hätte lieber gehabt, dass ich ein Mädchen bin, hat sie gesagt. Mädchen müssen keine Indianer sein, Mädchen dürfen Heulsusen sein, Mädchen müssen nicht auf die Zähne beißen, sondern werden in den Arm genommen und die Papis reiben ihnen die Finger warm. Magst du nicht noch ein Schwesterchen, Igor? Wenn Papi das sagt, töten
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