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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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entscheidenden Rennen riss, er stürzte als Führender auf dem Zielhang der Streif und blieb unter den offenen Mündern der Zuschauer und einer kurzen gespenstischen Stille knapp vor der Ziellinie nach einigen Salti Mortale auf dem Rücken liegen. Seitdem war er hirntot, wie er sagte, er wollte sich nicht mehr erinnern, ein Ski laufender Untoter, ein Zombie. Er war die größte Hoffnung gewesen, doch nach dem Sturz war alles größer als die Hoffnung, zurückzukommen. Er, der immer die Extreme suchte, keine Grenzen kannte außer jenen, die er überschritt, der immer zu schnell fuhr, zu schnell lebte, zu schnell trank, zu schnell ausgab, was er verdient hatte. Er, der so schön wie schnell war, ein Beau, ein Beatnik, war als Skilehrer geendet. Zumindest hatte er niemandem die Liftbügel an den Arsch halten müssen.
    Zuerst war Huller noch im Nachwuchsteam Abfahrtstrainer gewesen, aber er hatte es nicht ausgehalten. Die er trainiert hatte, waren kaum ein paar Jahre jünger als er. Er sah, dass sie ihm nicht das Wasser reichen konnten, aber ihm das Wasser bis zum Hals stand und es gefror in ihm, trieb Eisspitzen in sein Herz. Sie dachten, sie hätten nichts zu verlieren, aber er hatte alles verloren, sah in ihrem Übermut seinen Übermut, der in die Absperrung raste, der sich überschlug, dessen Bindung sich von Geisterhand löste, dessen geschliffene Kanten ihm die Wangen durchschnitten hatten, das Sprunggelenk nach dem Sprung gebrochen. Warum hatte er im Zielhang nicht einfach sterben können, war nicht gegen einen Pfosten geknallt oder in die Zuschauermenge und eine zerbrochene Champagnerflasche hätte seine Brust durchbohrt? Er wäre vor aller Augen verblutet, ein Held, ein Toter mit Bestzeit.
    Außerdem spürte er, wie die vorlauten Burschen hinter seinem Rücken ihn verlachten, ihn beim Duschen in Gesten imitierten, während sie früher auf den Knien vor ihm rutschten und ihn wie einen Heiligen verehrten, ihm die Skischuhe küssten und ihm am liebsten in den Arsch gekrochen wären, um mit ihm vom Starthaus hinabzustürzen.
    Bevor er einen von ihnen an die Wand drückte, bat er darum, mit den Kleinen arbeiten zu dürfen, den roten Teufeln. Und die kleinen Jungs liebten ihn von Anfang an, sie hingen an seinen Lippen, ließen sich von ihm die kalten Hände heißblasen, rückten ganz nah an ihn heran auf der Ofenbank. Er fuhr mit ihnen alle verbotenen Wege, tief durch die Wälder, in die Schluchten, den Tiefschnee, in vergessene Hänge, sie fuhren unter den Liften, sie sprangen, rasten, fuhren mit Stöcken und ohne, auf einem einzigen Ski, mit kurzen, mit langen Ski, er zeigte ihnen, wie sie springen sollten, brachte ihnen alle möglichen Kunststücke bei, und sie hatten ein gemeinsames Geheimnis, ihren geheimen Ort, und schworen, ihn nie zu verraten, Indianerehrenwort. Alle waren begeistert, was er aus den Jungs herausholte, sie wollten ihre Ski gar nicht mehr abschnallen und hassten den Sommer fast mehr als die Schule.
    Doch dann hörte Huller von einem zum anderen Tag auf, verschwand aus der Öffentlichkeit. Man erzählte sich, dass man ihn auf der Piste sieht, bevor die Lifte öffnen und nachdem sie schließen. Wie ein Schatten gleite er die Hänge hinunter, schwebend, riders in the sky , ein Ghostrider, ganz in Weiß. Sie sagen, wenn du die Augen schließt, hörst du seine Kurven. Er ist eine moderne Legende, ein Störtebecker. Die Leute im Ort haben sich lange den Kopf zerbrochen, warum er plötzlich keine Menschen mehr sehen wollte und seine Jungs im Stich gelassen hatte.
    Was hatte Grünsee in einem Interview gesagt, dessen Abdruck er dann untersagte? »Sie kennen doch sicher diese hysterischen Mütter, nicht? Was antworten Sie auf das ungläubige Nachfragen ob seines Verschwindens aus der Öffentlichkeit? Hatten Sie nie mit Schülern zu tun? Sicher hatten Sie, oder? Nach all dem, was in den Medien war, stell ich mir vor, bekam er Angst. Angst, dass sie ihn falsch verstehen, dass so eine Mutter, die aus Panik, dass er für ihren Sohn wichtig wurde, dass sie über ihr Kind die Kontrolle verlor, dass sie ihn anzeigt. Weshalb? Sie wird sich was ausgedacht, zusammengereimt haben, oder aber ihr Sohn war eifersüchtig, weil er sich zurückgesetzt glaubte oder ein anderer schneller war, flinker zwischen den Toren. Sie würde Huller ohne jeden Beweis beschuldigen, er fasse die kleinen Jungs an, sie würden alle nackt herumtollen und einander mit Schnee abreiben, Mutproben mit Skistecken, Bruderküsse auf den Mund.
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