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Sein anderes Gesicht

Sein anderes Gesicht

Titel: Sein anderes Gesicht
Autoren: Brigitte Aubert
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erhöhte Haut. Ein eigenartiges Gefühl. So muss es sein, wenn man einen Humanoiden berührt.
    »Wir sollten unser Gespräch von neulich fortsetzen.«
    »Welches?«
    »Transsexualität als Body-Art.«
    »Ah, genau. Sag mal, hast du nicht ein bisschen Stoff für mich?«
    »Tut mir Leid, aber ich bin blank.«
    Das glaube ich ihr. Ich gebe ihr einen Kuss und verziehe mich.
    Zoran, dem der rund um die Uhr geöffnete Gemischtwarenladen gehört, ist bereit, mir auszuhelfen. Ich will ihm auf meine Art danken, aber er lehnt lachend ab: Das ist nicht sein Ding.
    Anschließend gehe ich am Hafen spazieren, ich beobachte die Fähre, die nach Korsika ablegt. Ich beobachte gerne, wie die Schiffe auslaufen. Die weiße Schaumspur, die majestätischen Wellen, die Sirene, die den Aufbruch verkündet. Ich möchte in der Reede schwimmen und die riesige Fähre auf mich zukommen sehen, die große weiße Masse, der spitze Bug, der genau auf meinen Kopf zuhält. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren, mich ganz klein fühlen, winzig wie Fliegendreck. Von einer Masse zu Tode gequetscht zu werden, die tausendmal größer ist als man selbst, so wie wenn eine Ameise von einem Menschen zertreten wird. Genial.
    Ich setze mich mit dem Rücken an einen Betonpfeiler, betrachte das Wasser und schlafe ein.
    Als ich wieder aufwache, ist es später Nachmittag, und ich habe noch immer Kopfschmerzen. Ich recke mich. Dann pinkele ich in Form eines J an den Betonpfeiler. Ich habe es satt, mich rumzuschleppen. Ich habe dieses Leben satt.
    Zurück zu Johnnys Junggesellenbude. Ich verstecke mich hinter der Eingangstür des Nachbarhauses. Plötzlich fällt mir auf, dass ich friere. Ich reibe mir die Arme. Was machst du, Johnny? Komm, komm schnell.
    Ich warte eine Stunde, ich habe aufgehört, mir die Arme zu reiben, ich bin halb erfroren. Frösteln. Vielleicht ist es nicht die Kälte, sondern Hunger? Habe ich heute schon etwas gegessen? Ich vermag meine Empfindungen nicht mehr auseinander zu halten.
    Der Psychiater im Knast hat gesagt, das sei wegen dieses Zimmers, in das ich mich flüchtete, wenn mein Vater lostobte. Kein richtiges Zimmer, vielmehr ein Zimmer in meinem Kopf, ein schwarzes Loch, in dem man nichts spürt. Na ja, vielleicht. Was der Psychiater meint, ist mir egal.
    Im Knast hat man mir die Haare geschnitten, mich in eine Uniform gesteckt, in der ich mich hässlich fühlte, und er nannte mich die ganze Sitzung über Beaudoin. Er sagte, ich sei Transvestit, weil ich in gewisser Weise meine Mutter imitierte, um meinem Vater zu gefallen. Vielleicht, um ihn für mich zu gewinnen, damit er aufhört, mich zu hassen. Damit er mich liebt. Aber ich musste nicht erst Transvestit werden, damit mein Vater mich missbrauchte, habe ich ihm erklärt. Der Einzige im ganzen Haus, an dem sich dieses alte Ekel nicht vergangen hat, war der Hamster, und wahrscheinlich auch nur, weil ich den Käfigschlüssel versteckt hatte.
    Man hätte meinen können, mein Leben und all das hätte dem Psychiater Sorgen gemacht. Auch dass ich auf den Strich gehe. Dass ich rote Spitzen-BHs trage. Aber was sollte ich ihm sonst erzählen? Erstens steht mir Rot gut, zumindest, bevor mein Teint so gelblich wurde. Vor Johnny. Vor dem Abstieg.
    Eines Tages habe ich den Psychiater gefragt, ob er es schon mal mit einem Mann getrieben hätte. Er hat Nein gesagt. »Dann kann ich nicht mit Ihnen reden«, habe ich ihm geantwortet. »Ich kann nicht mit jemandem reden, der nicht weiß, wie es ist, einen anderen in sich zu spüren.« Als ich das sagte, hatte ich den Eindruck, ihm eine genaue Definition meiner selbst zu geben: jemand, der ständig einen Fremdkörper in sich fühlt.
    Der Psychiater sah mich seufzend an und fragte, ob ich Antidepressiva wolle. Ich antwortete: »Nein, warum?« Er hat mir erklärt, ich müsse aufhören, mein Leben wie einen Film zu kommentieren. Ich müsse es vielmehr leben. Es spüren. Die kleine Stimme in meinem Kopf zum Schweigen bringen, diejenige, die nie aufhören will und sich über alles lustig macht. Ich habe gesagt: »Okay, geben Sie mir Antidepressiva.«
    Es wird Nacht. Johnny kommt nicht. Es wird Nacht, aber ganz langsam, die Straßenlaternen gehen an, die Metalljalousien vor den Geschäften werden geschlossen, Autos hupen. Johnny kommt nicht. Ich blase in meine kalten Hände und krame in meiner Tasche nach einem Kaugummi. Nichts. Ein Fünf-Franc-Stück, ein Präservativ, eine Schachtel Streichhölzer, ein schmutziges Papiertaschentuch, zwei
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