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Sehnsuchtsland

Sehnsuchtsland

Titel: Sehnsuchtsland
Autoren: Inga Lindström
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schaute sie alarmiert an. Seine Lippen formten eine Frage. Lena wandte sich ab, ihr Handy am Ohr.
    Ich kann es nicht, dachte sie. Ich kann es nicht.
    »Lena?«, fragte Ingrid. »Bist du noch da? Hast du gehört, was ich gesagt...«
    »Schon gut«, fiel Lena ihr hastig ins Wort. Sie schluckte hart. »Ich komme. Heute Abend bin ich da.«
    Lena hörte, dass ihre Schwester dazu ansetzte, noch etwas zu sagen, doch bevor Ingrid den Satz zu Ende bringen konnte, hatte Lena die Verbindung getrennt. Sie steckte ihr Handy zurück in ihre Handtasche und atmete tief ein, bevor sie sich Malte zuwandte.
    »Aus unserem gemeinsamen Tag wird leider nichts. Ich muss nach Hause fahren. Mein Vater hatte einen Unfall.«
    Malte wirkte ehrlich betroffen. »Das tut mir Leid! Soll ich mitkommen? Ich wollte deine Familie doch schon lange mal kennen lernen.« Die Morgensonne glänzte auf den Emblemen seiner schmucken Uniform. Seine Körperhaltung und sein Gesichtsausdruck signalisierten bis in den kleinsten Winkel aufrechte Zuverlässigkeit und die Bereitschaft, ihr beizustehen.
    Erschöpft dachte sie, wie wenig sie das alles doch verdient hatte.
    »Lieber nicht«, sagte sie. »Es wäre keine gute Idee.« Sie senkte den Kopf, um ihm nicht länger in die Augen schauen zu müssen. »Das muss ich allein erledigen.«

    *

    Die Luft war weich wie Samt und schien förmlich zu leuchten. Die Straße wand sich durch ein lichtes Birkenwäldchen, zwischen dessen hellen Stämmen die Sonnenstrahlen zu einem silbernen Gespinst verwoben schienen, wie in einem Märchen, das von Trollen und Elfen erzählte.
    Jenseits der Baumgrenze erstreckte sich Weidefläche in endlosem Grün, hier und da gesprenkelt vom wolligen Weiß einer Schafherde oder einer Schar behäbig grasender Kühe. Weizenfelder glänzten in der Ferne wie mattiertes Gold, in dessen Fläche sich vereinzelt die dunkel umgrenzten Gevierte einsamer Gehöfte auftaten. Der Sommer erfüllte die nordische Landschaft mit seinem eigentümlich klaren Licht, das alle Konturen zum Schimmern brachte.
    Im üppigen Grün der Wiesen leuchteten Sommerblumen in explosiver Farbenpracht. Lena erinnerte sich un-willkürlich an die vielen Sträuße, die sie und Ingrid als Kinder gepflückt hatten, duftendes weißes Mädesüß , blaue Glockenblumen, rote Weidenröschen, gelbes Wassergreiskraut, violettes Wiesenschaumkraut. Sie hatten sie zu Kränzen gewunden und Blumenprinzessin gespielt.
    Lenas Hände lagen am Steuer ihres Cabrios, aber alle ihre Sinne waren auf ihre Umgebung konzentriert. Der Fahrtwind fing sich in ihren Haaren und trug ihr den Geruch von Harz, Gras und einer Spur Holzrauch zu. Irgendwo hatten Bauern oder Waldarbeiter ein Feuer entfacht.
    Zu ihrer Rechten lag der See, glatt und ruhig. Wenige Segelboote kreuzten mit geblähten Segeln übers Wasser, strahlend weiße Punkte, die einzige Bewegung weit und breit. Das Ufer war streckenweise von Holzhäusern gesäumt, in deren Fenstern sich blinkend die Sonne spiegelte.
    Alles war wie in einer Geschichte aus längst vergangenen Zeiten, unverändert und auf schmerzhafte Weise vertraut. Lena starrte angestrengt über das Wasser und versuchte vergeblich, die plötzliche Enge in ihrer Kehle zu ignorieren. Sie bekam keine Luft mehr und knöpfte den Kragen ihrer Bluse auf, doch es wurde nicht besser. Ein Sonnenstrahl verirrte sich durch die dünnen Zweige der Bäume rechts und links der Straße und kitzelte ihr Gesicht. Geblendet schloss Lena die Augen, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Als sie wieder richtig sehen konnte, stand er plötzlich vor ihr. Wie aus dem Boden gewachsen ragte er mitten auf der Straße vor ihr auf, mit seinem riesenhaften, ausladenden Geweih, seinen knochigen Schultern und seinem höckerigen Rücken, dunkel und schweigsam, ein Fabelwesen von urtümlicher, geheimnisvoller Kraft.
    Lena bremste abrupt und riss das Lenkrad herum, um dem Elch auszuweichen. Der Wagen geriet ins Rutschen und kam nur wenige Zentimeter vor einem Wegweiser in Form eines großen Steinquaders zum Stehen. Zusammen mit einem identisch aussehenden Quader auf der gegenüberliegenden Seite des Weges markierte er eine Abzweigung, von der Lena wusste, dass sie zu einem Anwesen führte, dessen Name auf den beiden steinernen Wegweisern eingraviert war.
    Marielund...
    Lena rang nach Luft, dann biss sie die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat. Sie presste ihre Hände gegen die Augen, doch nichts konnte die Bilder verdrängen, die plötzlich von allen Seiten auf sie
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