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Seelennacht

Seelennacht

Titel: Seelennacht
Autoren: Kelley Armstrong
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kennengelernt hatte. Ja sicher, Derek war ein Werwolf, aber der wölfische Teil von ihm war es ja gerade, der ihn daran
hindern
würde, Simon jemals zu verletzen. Er würde ihn beschützen, um jeden Preis – das hatte ich bereits mit eigenen Augen gesehen.
    Man muss mir die Skepsis angesehen haben, denn Dr. Davidoff schüttelte den Kopf, als sei er enttäuscht von mir. »In Ordnung, Chloe. Wenn du keine Bedenken Simons Sicherheit wegen hast, dann vielleicht seiner Gesundheit wegen.«
    »W-was h-hat es mit …« Mein Stottern machte sich vor allem dann bemerkbar, wenn ich nervös war. Aber ich durfte mir nicht anmerken lassen, dass sie einen Nerv getroffen hatten. Also versuchte ich es noch einmal, langsamer jetzt. »Warum? Was hat es mit seiner Gesundheit auf sich?«
    »Seine Beschwerden.«
    Ganz offensichtlich gab es hier noch mehr Leute, die zu viele Filme gesehen hatten. Als Nächstes würden sie mir erzählen, dass Simon irgendeine seltene, wenig bekannte Krankheit hatte, und wenn er nicht in den nächsten zwölf Stunden seine Medikamente bekam, würde sein Körper innerhalb kürzester Zeit verbrennen, spontane Selbstentzündung eben.
    »Welche Beschwerden?«
    »Er hat Diabetes«, klärte Dr. Davidoff mich auf. »Sein Blutzuckerspiegel muss überwacht und reguliert werden.«
    »Mit einem von diesen Bluttestdingern?«, fragte ich langsam, während ich mir die vergangenen Tage ins Gedächtnis rief. Simon war vor jeder Mahlzeit im Bad verschwunden. Ich hatte immer gedacht, er legte einfach Wert darauf, sich die Hände zu waschen, aber einmal war ich fast in ihn hineingerannt, als er gerade wieder herausgekommen war und einen kleinen schwarzen Behälter in die Hosentasche geschoben hatte.
    »Genau das«, antwortete Dr. Davidoff. »Bei ordnungsgemäßer Behandlung kann man mit Diabetes ohne weiteres gut leben. Ihr habt nichts davon bemerkt, weil das nicht sein muss. Simon führt ein normales Leben.«
    »Mit einer einzigen Ausnahme«, mischte sich Toris Mom ein. Sie griff in die Tüte und zog einen Rucksack heraus. Er sah genauso aus wie Simons, aber darauf fiel ich nicht rein – wahrscheinlich hatten sie sich das gleiche Modell besorgt. Ja, so musste es sein. Dann zog sie einen Kapuzenpulli heraus, der Simon gehörte. Aber schließlich hatte er in Lyle House einen ganzen Schrank voll Kleidung zurückgelassen. Es war also nicht weiter schwer, sich von dort Sachen zu besorgen. Als Nächstes kamen ein Zeichenblock und ein Beutel mit Farbstiften. Simons ganzes Zimmer war voller Comiczeichnungen gewesen, also galt auch hier, dass sie ohne weiteres … Mrs. Enright blätterte in dem Zeichenblock und zeigte mir einzelne Seiten. Simons halbfertige Arbeiten. Die hätte er nicht zurückgelassen!
    Zuletzt legte sie eine Taschenlampe auf den Tisch. Die Taschenlampe aus Lyle House – die, von der ich gesehen hatte, wie er sie in die Tasche geschoben hatte.
    »Simon ist abgerutscht, als er über den Zaun geklettert ist«, sagte Mrs. Enright. »Er hatte den Rucksack nur über eine Schulter gehängt, und als er ihm runterfiel, musste er ihn liegenlassen, weil unsere Leute unmittelbar hinter ihm waren. Und hier drin ist etwas, das Simon viel dringender braucht als Kleidung und Zeichenutensilien.« Sie öffnete einen dunkelblauen Nylonbeutel. Darin sah ich zwei kugelschreiberartige Ampullen, eine mit einer rauchigen, die andere mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. »Das Insulin, mit dem Simon das ersetzt, was sein Körper nicht produzieren kann. Er injiziert es sich drei Mal pro Tag.«
    »Und was passiert, wenn er es nicht tut?«
    Dr. Davidoff ergriff das Wort. »Wir wollen dir jetzt keine Angst machen und behaupten, dass Simon stirbt, wenn er eine einzige Injektion auslässt. Die von heute Morgen hat er aber schon verpasst, und ich bin mir sicher, dass er sich mittlerweile ein bisschen unwohl fühlt. Morgen um diese Zeit wird er sich erbrechen. In etwa drei Tagen wird er ins diabetische Koma fallen.« Er nahm Toris Mom den Beutel aus den Händen und legte ihn vor mich. »Wir müssen dafür sorgen, dass Simon das bekommt. Und deswegen musst du uns sagen, wo er ist.«
    Ich versprach, mein Bestes zu geben.

[home]
2
    I n einem guten Drama findet die Heldin niemals auf direktem Weg zum Ziel. Sie bricht auf, stößt auf ein Hindernis, muss einen Umweg machen, findet sich vor dem nächsten Hindernis wieder, muss einen noch längeren Umweg machen, dann noch ein Hindernis, noch ein Umweg … Erst wenn sie die nötige
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