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Seelenlos

Seelenlos

Titel: Seelenlos
Autoren: D Koontz
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die Herrschaft der Hölle auf Erden zu ertragen.
    Als ich die Straßenecke erreichte, gesellte Dr. Jessup sich wieder zu mir. Sein Aufzug und die späte Stunde wiesen darauf hin, dass er sich vor dem Besuch in meiner Wohnung in seinem Haus am Jacaranda Way aufgehalten hatte. Es stand fünf Querstraßen weiter nördlich in einer wohlhabenderen Nachbarschaft. Nun führte er mich in diese Richtung.
    Er konnte fliegen, doch er trottete schwerfällig daher. Deshalb lief ich voraus.
    Obwohl ich mich vor dem, was wir vorfinden würden, nicht weniger fürchtete als er, wollte ich es rasch vor Augen haben. Womöglich war ein weiteres Leben in Gefahr.
    Auf halbem Weg fiel mir ein, dass ich den Chevy hätte nehmen können. Seit ich den Führerschein besitze, habe ich meist
kein eigenes Auto gehabt, sondern mir eines von Freunden ausgeliehen, wenn ich es brauchte. Im Herbst habe ich aber ein Chevrolet Camaro Berlinetta Coupé, Baujahr 1980, geerbt.
    Oft verhalte ich mich allerdings noch immer so, als hätte ich keinen fahrbaren Untersatz. Mehrere Tausend Pfund Blech zu besitzen bedrückt mich, wenn ich zu viel darüber nachdenke, und weil ich versuche, nicht darüber nachzudenken, vergesse ich den Wagen manchmal ganz.
    Unter dem narbigen Gesicht des blinden Mondes lief ich dahin.
    Das Domizil von Dr. Jessup ist eine aus weißen Ziegeln erbaute Villa im georgianischen Stil mit eleganten Zierelementen. Flankiert wird sie auf der einen Seite von einem hübschen viktorianischen Bau, der derart mit Gesimsen überladen ist, dass er aussieht wie ein Hochzeitskuchen. Auf der anderen Seite steht ein Haus, das sich barock gibt, aber auf ganz falsche Weise.
    Keiner dieser Architekturstile passt zu Gebäuden in der Wüste, die von Palmen beschattet und von bunter Bougainvillea umrankt sind. Meine Heimatstadt wurde um 1900 von Leuten gegründet, die vor dem harten Winter der Ostküste geflohen waren, jedoch die Architektur und die Geisteshaltung jener kühleren Klimazone mitgebracht hatten.
    Meine Chefin Terri Stambaugh, Besitzerin des Pico Mundo Grills, die mir auch eine gute Freundin ist, meint immer, diese gedankenlos hierher verpflanzte Architektur sei besser als die öden, von Kiesdächern überragten Stuckfassaden in vielen anderen Wüstenstädten Kaliforniens.
    Wahrscheinlich hat sie recht. Wissen kann ich das nicht, denn ich habe die Stadtgrenze von Pico Mundo nur selten überquert. Über die Grenzen von Maravilla County bin ich überhaupt nicht hinausgekommen.

    Mein Leben ist zu ausgefüllt, um eine Spritztour oder gar eine Reise zu erlauben. Ich sehe mir nicht mal Reisesendungen im Fernsehen an.
    Die Freuden des Lebens kann man überall finden. Ferne Orte bieten nur exotische Arten zu leiden.
    Außerdem wird die Welt jenseits von Pico Mundo von Fremden heimgesucht, und ich finde es schon schwierig genug, mit den Toten fertig zu werden, die ich kannte, als sie noch lebten.
    Hinter einigen der Fenster von Dr. Jessups Haus brannte weiches Lampenlicht, oben und im Erdgeschoss. Die meisten Scheiben waren dunkel.
    Als ich die Treppe zur Veranda erreichte, erwartete Dr. Wilbur Jessup mich bereits.
    Der Wind zerzauste sein Haar und ließ seinen Pyjama flattern, obwohl ich nicht recht wusste, weshalb der Wind eine Wirkung auf ihn hatte. Auch Mondlicht und Schatten erfassten ihn.
    Offenbar brauchte der trauernde Radiologe Trost, bevor er die Kraft aufbringen konnte, mich in sein Haus zu führen, wo sich zweifellos seine Leiche befand. Vielleicht auch noch eine zweite.
    Ich umarmte ihn. Obwohl er ein Geist war, der für alle außer für mich unsichtbar blieb, fühlte er sich warm und solide an.
    Dass ich sehe, wie die Toten vom Wetter und von Licht und Schatten dieser Welt berührt werden, und dass ich ihren Körper so warm empfinde wie den von Lebenden, liegt vielleicht nicht daran, dass sie so sind, sondern dass ich sie so haben will. Vielleicht versuche ich mit dieser Finte, die Macht des Todes zu leugnen.
    Womöglich ist meine übernatürliche Begabung nicht in meinem Geist, sondern in meinem Herzen verwurzelt. Das Herz ist ein Künstler, der alles übermalt, was ihn zutiefst verstört, sodass
auf der Leinwand eine weniger dunkle, weniger scharfe Spielart der Wahrheit bleibt.
    Dr. Jessup besaß keinerlei Substanz, und doch lehnte er sich schwer an mich. Er bebte von den Seufzern, denen er keine Stimme verleihen konnte.
    Die Toten sprechen nicht. Vielleicht wissen sie Dinge über den Tod, von denen die Lebenden nichts erfahren
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