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Seelenlos

Seelenlos

Titel: Seelenlos
Autoren: D Koontz
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dürfen.
    In diesem Augenblick hatte ich durch meine Fähigkeit zu sprechen keinen Vorteil. Worte hätten Dr. Jessup nicht getröstet.
    Nur die Gerechtigkeit konnte seine Qualen lindern, und vielleicht nicht einmal die.
    Als er noch am Leben gewesen war, war ich für ihn der Odd Thomas gewesen, wie ihn viele hier im Ort kennen. Manche Leute halten mich – fälschlich – für einen Helden, und fast jedermann bezeichnet mich als exzentrisch.
    Odd ist kein Spitzname; so heiße ich ganz offiziell.
    Die Geschichte meines Namens ist recht interessant, aber ich habe sie schon mal erzählt. Im Grunde läuft sie darauf hinaus, dass meine Eltern äußerst merkwürdige Persönlichkeiten sind.
    Ich glaube, als Dr. Jessup noch am Leben gewesen war, hatte er mich faszinierend, amüsant und rätselhaft gefunden. Er hatte mich wohl gemocht.
    Erst im Tod hatte er mich als den erkannt, der ich bin: ein Gefährte der in dieser Welt verweilenden Toten.
    Ich sehe sie, obwohl ich wünschte, es wäre anders. Allerdings schätze ich das Leben zu sehr, um die Toten abzuweisen, denn sie verdienen mein Mitgefühl, weil sie in dieser Welt gelitten haben.
    Als Dr. Jessup sich von mir löste und einen Schritt zurücktrat, hatte er sich verändert. Nun waren seine Wunden sichtbar.

    Er war mit einem stumpfen Gegenstand, vielleicht einem Rohr oder Hammer, im Gesicht getroffen worden. Mehrfach. Sein Schädel war gebrochen, seine Gesichtszüge waren verzerrt.
    Der Zustand seiner aufgerissenen, gebrochenen Hände wies darauf hin, dass er verzweifelt versucht hatte, sich zu verteidigen – oder dass er jemandem zu Hilfe gekommen war. Der einzige Mensch, der bei ihm lebte, war sein Sohn Danny.
    Mein Mitleid wurde rasch von rechtschaffenem Zorn übertroffen, einer gefährlichen Emotion, die das Urteilsvermögen trübt und unvorsichtig macht.
    Diesen Zustand strebe ich nicht bewusst an, ich habe sogar Angst davor. Wenn er mich überkommt, als wäre ich davon besessen, kann ich das, was getan werden muss, nicht einfach ignorieren. Ich stürze mich hinein.
    Die wenigen meiner Freunde, die meine Geheimnisse kennen, meinen, dieser zwanghafte Zustand habe etwas mit göttlicher Inspiration zu tun. Vielleicht ist es aber auch einfach vorübergehender Wahnsinn.
    Während ich die Treppe hochstieg und über die Veranda ging, überlegte ich bei jedem Schritt, ob ich Chief Wyatt Porter anrufen sollte. Ich hatte jedoch Angst, in dem Zeitraum, in dem ich das Telefongespräch führte und auf die Polizei wartete, könnte Danny zu Tode kommen.
    Die Haustür war angelehnt.
    Ich sah mich um und stellte fest, dass Dr. Jessup lieber im Garten statt im Haus spukte. Er war auf dem Rasen stehen geblieben.
    Seine Wunden waren verschwunden. Er sah so aus, wie er ausgesehen hatte, bevor der Tod ihn ereilt hatte – und er hatte offenkundig Angst.
    Bis sie diese Welt endgültig verlassen haben, können selbst die Toten Furcht empfinden. Man würde meinen, sie hätten
nichts mehr zu verlieren, aber dennoch werden sie manchmal von Angstgefühlen gepeinigt. Diese Gefühle beziehen sich allerdings nicht auf das, was im Jenseits auf sie wartet, sondern auf die Menschen, die sie hinterlassen haben.
    Ich drückte die Tür auf. Sie bewegte sich glatt und so lautlos wie der Mechanismus einer sauber gebauten Mausefalle.

2
    Im Licht von matten, flammenförmigen Glühbirnen, die in versilberten Kerzenleuchtern steckten, sah ich einen Flur mit weißen Kassettentüren. Sie waren alle geschlossen. Davor führte eine Treppe in die Dunkelheit hinauf.
    Da der Marmorboden nicht poliert, sondern matt geschliffen war, sah er nicht nur wolkenweiß, sondern auch wolkenweich aus. Darauf schwebte rubinrot, türkis und saphirblau ein Perserteppich wie ein magisches Taxi, das auf einen Fahrgast mit Sinn für Abenteuer wartete.
    Ich trat über die Schwelle, ohne im Wolkenboden zu versinken. Der Teppich vibrierte unter meinen Füßen.
    In solchen Situationen ziehen geschlossene Türen mich meist unaufhaltsam an. Seit einigen Jahren habe ich ab und zu einen sehr unangenehmen Traum, in dem ich bei der Durchsuchung eines Hauses eine weiße Kassettentür öffne, worauf sich mir etwas durch die Kehle bohrt, das scharf, kalt und so dick wie ein eiserner Zaunpfosten ist.
    Bevor ich sterbe, wache ich immer würgend auf, als wäre ich noch aufgespießt. Danach stehe ich normalerweise auf, egal, wie früh es ist.
    Meine Träume haben durchaus nicht immer einen prophetischen Charakter. Zum Beispiel bin ich noch nie
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