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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Autoren: Sergej Minajew
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SMS auf Tausende dieser blöden Zettel zu schreiben und alle an den Spiegel zu pappen.
    Im Glas des Spiegels sehe ich einen Teil des Zimmers und des Flurs. Zum x-ten Mal fällt mir auf, dass ich den Fernseher umstellen sollte und dass ich neue Küchenvorhänge bräuchte. Dabei habe ich plötzlich die Eingebung, es stünde mir eine sehr lange Reise bevor, nach Kemerowo oder Irkutsk, obwohl ich noch nie in einer dieser Städte war. Ich verspüre eine leichte Trauer, einen Widerwillen wegzufahren, und einen Geschmack von Kupfer im Mund. Ich schüttel mich und rede mir ein, dass das alles nur Unsinn ist, weil ich doch gar nicht vorhabe, zu verreisen. Ich lächel meinem Spiegelbild zu, dann verlasse ich die Wohnung.
    Draußen ist es ziemlich warm, und es herrscht eine sonderbar melancholische Stimmung. Ich gehe die Straße entlang und fühle mich, als bewegte ich mich in einer gallertartigen Masse. Mit jedem Schritt muss ich gegen den Widerstand der kompakten abgestandenen Luft ankämpfen, die mich umgibt. Als ich die nächste Hauptverkehrsstraße erreiche, merke ich, dass ich sehr müde bin. Ich habe keine Lust mehr, irgendwohin zu fahren, keine Lust, jemanden
zu sehen. Das Einzige, was mich davon abhält, umzudrehen und wieder nach Hause zu gehen, ist die Tatsache, dass es in meiner Wohnung so gnadenlos leer ist.
    Widerwillig hebe ich die Hand, und wie durch Zauberei halten fast in derselben Sekunde zwei Autos vor mir. Ich steige in das erste ein, nenne die Anschrift des Café Vogue, wo man um diese Zeit Frühstück bekommt, und stecke mir eine Zigarette an. Ich habe keine Lust, mich mit dem Fahrer zu unterhalten. Erstens, weil er zu laut über die blöden Witze im Radio lacht, und zweitens, weil er auf seiner Heckscheibe einen McDonald’s-Aufkleber hat.
    Nur um etwas zu tun, fange ich an, meine Jackentaschen zu untersuchen. Aus der rechten Innentasche krame ich meine Brieftasche und meinen Pass hervor, aus der linken einen Stoß rechteckiger Glanzpapierkarten. Ich drehe sie in den Händen und verstehe nicht, was das für Dinger sind. Es ist einfach nichts darauf zu sehen, kein Bild, keine Schrift. Sie sind vollkommen leer.
    »Sie sollten sich ein Notizbuch zulegen«, bemerkt der Fahrer und wendet mir halb den Kopf zu. »Am besten ein elektronisches. Ein Freund von mir hat so ein Ding.«
    »Wie bitte?«, frage ich verwirrt.
    »Na ja, dann hat man nicht lauter lose Notizzettel in der Tasche. So was verliert man doch ständig.«
    »Ach so … jaja, das stimmt«, antworte ich, komplett durcheinander.
    »Hej, schwer verkatert, was?«, lacht der Fahrer.
    »Hmhm, ziemlich beschissen«, bestätige ich und begreife, dass ein Kater der einzige Zustand ist, der bei einem russischen Mann ernsthaftes Mitgefühl für einen Fremden hervorrufen
kann. Ich hoffe sehr, dass der Fahrer jetzt die Klappe hält, weil er genau weiß, wie man sich damit fühlt.
    »Wenn man einen Kater hat, fährt man am besten raus in die freie Natur«, redet er zu meinem Bedauern weiter. »Die Vögel zwitschern, man trinkt lauwarme Milch direkt von der Kuh, alles ist in bester Ordnung. Zum Mittag kippt man zweihundert Gramm Wodka und geht anschließend gleich wieder in die Kiste. Nachmittags um vier ist man frisch wie eine grüne Gurke. Dann kann man locker weitertrinken. Abends ist man glücklich und zufrieden und hat so eine angenehme Leere im Kopf. Trinken muss man mit Verstand, sonst hat’s keinen Sinn!«
    Ein raues Lachen beendet seinen kurzen Vortrag in praktischer Lebensweisheit. Leider folgt sogleich eine Parade fernsehreifer Kalauer, und in meinem Kopf verdichtet sich der Wunsch, nach der Fernbedienung zu greifen und den Ton auszuschalten. In diesem Moment klingelt mein Handy, und ich drücke mit dem Daumen einen Knopf, als wäre es tatsächlich eine Fernbedienung. Aber dann reiße ich mich zusammen, halte das Gerät an mein Ohr und sage:
    »Hallo!«
    »Hallo! Hast du mich erkannt?«
    »Natürlich hab ich dich erkannt, Vadim.«
    »Bist du schon wach?«
    »Ja, ich kann nicht schlafen.«
    »Wir müssen uns treffen.«
    »Kein Problem. Ich will gerade zum Frühstücken ins Vogue. Du kannst ja dazukommen.«
    »Ich bin in zwanzig Minuten dort.«
    »Okay. Bis gleich.«

    Im Vogue nehme ich von der Ablage am Eingang ein Exemplar des Sport Express und gehe in den ersten Raum. Dort sind nur wenige Tische besetzt – offenbar von genau solchen Frühaufstehern wie mir. Ich wähle einen Fensterplatz, bestelle Kaffee und schlage die Zeitung auf. Ich überfliege
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