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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Autoren: Sergej Minajew
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ich sage? Auf diesen verdammten Seiten ist nichts zu sehen. Ich nehme ein anderes Magazin: das Gleiche; dann ein drittes: nichts anderes. Zweihundert weiße Seiten. Zweihundert Seiten Leere.
    Ich lege die Magazine weg. Ich bin tatsächlich extrem nervös. Ich muss mich dringend beschäftigen. Ich brauche etwas, woran ich mich festhalten kann. Mein Blick fällt auf ein Fotoalbum. Ein stinknormales kitschiges Fotoalbum, wie es sie in jedem Haushalt gibt. In dem einen sind Hochzeitsfotos, Geburtstagsfotos von der Frau, den Kindern, der Oma. Ergreifende Momente des Lebens, von gierigen Kameraobjektiven festgehalten. Genau so ein Ding besitze ich auch. Fotos von Partys, Shootings mit Szene-Fotografen, Kopien von Aufnahmen, die in allen möglichen Magazinen veröffentlicht wurden. All that Jazz, mit einem Wort.
    Ich schlage das Album auf. Ganz bestimmt wird es beruhigend auf mich wirken. Mich in Erinnerungen zu versenken, wie man sagt. Und wissen Sie, was ich sehe? Richtig: Gar nichts sehe ich. Auf jeder Seite des Albums kleben genau drei leere, weiße artonrechtecke. Ich nehme ein paar davon heraus, in der schwachen Hoffnung, dass ich die Fotos vielleicht falsch herum eingelegt habe. Aber nichts dergleichen, lauter weiße, leere Kärtchen. Fast muss ich lachen.
Es stimmt ja: Was will man denn Bemerkenswertes sehen, wenn man die totale Leere fotografiert hat?
    Ich gehe wieder in die Küche. Die Stille ist jetzt nicht mehr so dramatisch. Ich verstehe, dass die Leere um mich herum ihren Höhepunkt erreicht hat. Sie ist vollkommen. Ich finde diesen Zustand gar nicht so unkomfortabel.
    Ich gieße mir einen Kaffee ein, stelle einen Stuhl in die Mitte der Küche und setze mich hin, mit dem Gesicht zur Lehne, lege mein Kinn auf die Arme und schaue aus dem Fenster.
    Ich überlege, wo ich frühstücken möchte und wen ich anrufen und bitten könnte, mir Gesellschaft zu leisten. Das Problem ist, dass alle meine Bekannten den Sonntagmorgen nur vom Hörensagen kennen. Um diese Zeit liegen sie alle fest schlafend in ihren Betten, die Handys in weiser Voraussicht ausgeschaltet, damit sie den Anrufen von Stadtneurotikern wie mir entgehen. Melancholisch denke ich, dass ich mich jetzt gern mit einem meiner alten Kommilitonen treffen würde, oder mit einem Schulkameraden, einfach ein, zwei Stündchen sitzen und plaudern, ohne Platzhirschgehabe und sonstigen Blödsinn. Plötzlich klingelt im anderen Zimmer mein Handy. Gibt es tatsächlich in dieser Stadt noch jemanden außer mir, der nicht schläft? Ich klappe das Handy auf und höre Julas Stimme: »Hallo.«
    »Hallo. Habe ich etwa geheime Videokameras in meiner Wohnung?«
    »Wie meinst du das?«
    »Woher wusstest du, dass ich nicht schlafe?«
    »Ich wusste es nicht. Ich wollte einfach mit dir reden. Wie geht es dir?«

    »Ehrlich gesagt, beschissen. Ich fühle mich komplett leer.«
    »Hast du getrunken?«
    »Keinen Tropfen. Gehst du mit mir frühstücken? Ich denke schon seit zwei Stunden darüber nach, frühstücken zu gehen.«
    »Ich kann nicht. Ich bin nicht in der Stadt.«
    »Ach schade. Oder nein … ich meine, wann bist du denn zurück?«
    »Ich komme Dienstag früh mit dem Zug. Holst du mich ab?«
    »Bestimmt. Ich meine, ich möchte dich sehr gern abholen. Sagst du mir die Zugnummer, den Bahnhof und so weiter?«
    »Ich schicke dir eine SMS.«
    »Prima. Hör mal …«
    »Ja?«
    »Ich wollte nur sagen … ich will dir sagen, dass ich es sehr schade finde, dass wir heute nicht zusammen frühstücken können. Ich habe damals so viel dummes Zeug geredet. Weißt du, ich habe an etwas ganz anderes gedacht, und …«
    »Ich weiß schon. Wir reden später darüber. Es wird alles gut.«
    »Na schön, dann also tschau, ja?«
    »Tschau. Ich schicke dir gleich die SMS.«
    »Ist gut. Jula, ich wollte dir noch sagen, dass ich …«
    »Was?«
    »Ach, das sage ich dir, wenn wir uns treffen.«
    »Na gut.«
    Bevor sie ausschaltet, lacht sie kurz auf, und ich fühle mich so dumm, weil ich kein vernünftiges Wort herausbekommen
habe. Dabei scheint mir das in meinem heutigen Zustand ganz besonders wichtig. Ihre SMS trifft ein, ich schreibe mir sorgfältig alle Angaben auf ein gelbes Zettelchen und hefte es an den Spiegel. Eigentlich kann ich diese Zettelchen nicht leiden. Alle Leute benutzen diese Dinger, um sich alberne Liebesbotschaften damit zu schreiben, kleistern sie hin, wo sie gehen und stehen, und am Ende sieht die Wohnung aus wie eine einzige Pin-Wand. Aber jetzt habe ich auf einmal Lust, diese
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